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Demonstranten in Tunesien.

© dpa

Tunesien: Die Arabellion kehrt zurück

Tödliche Schüsse auf einen Oppositionspolitiker haben Tunesien endgültig in eine schwere politische Krise gestürzt. Ein Ausweg ist nicht in Sicht. Der Erfolg der Revolution steht auf dem Spiel. Wie dramatisch ist die Situation?

Blutflecken und Blumensträuße markieren jenen Ort, an dem der populäre tunesische Oppositionsführer Chokri Belaid am Mittwoch in der Hauptstadt Tunis erschossen wurde. Auch am Tag nach dieser Bluttat erschüttern Demonstrationen, Streiks und Unruhen das Land, das nun, zwei Jahre nach Beginn der Arabellion, vor dem Scherbenhaufen des Umbruchs steht.

Wie tief gehen die Probleme im Land?

Die regierende Islamistenpartei Ennahda ist mit ihrem Versprechen gescheitert, für eine moderate und tolerante Gesellschaft einzutreten. Das Attentat dürfte die wachsenden politischen Spannungen in Tunesien weiter verschärfen. Die von dem moderaten Islamisten Hamid Jebali angeführte Übergangsregierung, die von Ennahda zusammen mit zwei nichtreligiösen Parteien gebildet wird, steht seit längerem auf wackligen Beinen. Das Attentat hat diesen Bruch nun beschleunigt. Jebalis kleinere Koalitionspartner, die nichtreligiöse linke Kongresspartei und die sozialdemokratische Partei Ettakatol, hatten bereits ihren Ausstieg angekündigt. Staatspräsident Moncef Marzouki, Gründer der Kongresspartei, hatte gefordert, eine neue Regierung unter Einbindung der Opposition zu gründen, um eine weitere Spaltung der Gesellschaft zu vermeiden. Marzouki hatte das Attentat verurteilt und erklärt: „Es gibt viele Feinde der Revolution, und sie tun alles dafür, damit diese scheitert.“ Die Koalitionspartner wie auch die Opposition hatten Ennahda vorgeworfen, immer mehr Schaltstellen in der Regierung wie in der ganzen Staatsverwaltung mit religiösen Getreuen zu besetzen. Nachdem nun Jebali unmittelbar nach dem Attentat die Umbildung der Regierung angekündigt hat und seine eigene Partei diesem Vorhaben entgegentritt, ist auch das politische Schicksal des Ministerpräsidenten selbst ungewiss.

Nach Ansicht von Hardy Ostry von der Konrad-Adenauer-Stiftung trifft die Ermordung Belaids das Land schwer – handelt es sich doch um das erste politische Attentat seit 1952, als der damalige tunesische Gewerkschaftsführer Farhat Hachad umgebracht wurde. Tunesien werde seit Monaten von Unsicherheit, zunehmender Gewalt und einer politischen Bipolarisierung charakterisiert.

Nach den Übergriffen auf die US-amerikanische Botschaft sowie die amerikanische Schule im September letzten Jahres durch gewaltbereite Salafisten habe die Regierung nur zögerlich das Gewaltmonopol des Staates geltend gemacht. Auch die schleichende Eroberung der Moscheen durch gewaltbereite Hassprediger führe zu verstärkter Unsicherheit der Bürger, analysiert Ostry. Weil sich auch die wirtschaftliche und soziale Situation weiter verschlechterten, fühlten sich die Tunesier um die Revolutionsdividende betrogen. Die offizielle Arbeitslosenquote in Tunesien, wo knapp elf Millionen Menschen leben, liegt bei 20 Prozent, rund ein Drittel der jungen Leute und Hochschulabsolventen stehen auf der Straße; in der Provinz sieht es noch schlimmer aus.

Wer steckt hinter dem Mord an Belaid?

Der ermordete Oppositionelle Belaid, Chef der „Bewegung demokratischer Patrioten“, hatte immer wieder davor gewarnt, dass die Islamisten eine neue religiöse Diktatur errichten wollten. Und er hatte beklagt, dass Ennahda der Opposition mit gewalttätigen Milizen das Leben schwermache. Belaid trat für die Trennung von Staat und Religion ein und galt als einer der schärfsten Kritiker der Islamisten. Mehrfach waren Veranstaltungen seiner linken Oppositionspartei von religiösen Extremisten attackiert worden. Belaid hatte auch kritisiert, dass Ennahda nahestehende Gruppen Kunstausstellungen und alte religiöse Kultstätten angreifen, weil diese angeblich nicht mit dem Islam vereinbar seien.

Am Tag vor seinem Tod enthüllte er, dass er Morddrohungen erhalten habe. Am Mittwochmorgen wurden seine Ahnungen auf grausame Weise bestätigt: Ein Killerkommando erwartete ihn vor seinem Haus. Die Familie Belaids machte Ennahda für den Mordanschlag verantwortlich. „Ich bin verzweifelt und deprimiert“, sagte ein Bruder des Opfers. Ennahda- Chef Rached Ghannouchi stecke hinter der Tat. Die Ennahda-Führung, die das „abscheuliche Verbrechen“ verurteilte, wies diese Vorwürfe zurück.

Wie sieht Tunesiens Zukunft aus?

Tunesiens Krise dürfte den Fahrplan für die Verabschiedung einer Verfassung und für reguläre Wahlen weiter verzögern. Ursprünglich sollte in dem Land, wo der arabische Frühling vor zwei Jahren seinen Ausgang nahm, im kommenden Sommer eine demokratisch legitimierte Regierung und ein Staatspräsident gewählt werden. Doch die Verhandlungen über die Verfassung liegen nun erst einmal auf Eis, nachdem vier große Oppositionsgruppen, darunter auch Belaids Bewegung, aus der entscheidenden verfassungsgebenden Versammlung ausstiegen. Auch dort war es öfter zum Streit gekommen, weil die Islamisten zunehmend Werte des radikalen islamischen Scharia-Rechtes zur Grundlage machen wollten. Und ohne Verfassung kann es keine Wahlen geben.

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