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Der Protest geht weiter. Vor dem Parlamentsgebäude in Tunis demonstrierten auch am Samstag zahlreiche Tunesier gegen die Übergangsregierung. Foto: Fethi Belaid/AFP

© AFP

Tunesien: Neue Minister, alte Partei

Die Tunesier misstrauen der Übergangsregierung und demonstrieren weiter – einen klaren Neuanfang gibt es bisher nicht

Gegen Mittag gibt es kein Durchkommen mehr. Hunderte Menschen stehen dicht gedrängt auf dem Platz Mohamed Ali am Rand der Altstadt von Tunis, benannt nach dem Begründer der tunesischen Gewerkschaftsbewegung. Junge und alte Männer, Frauen und ganze Familien sind gekommen, um ihren Gewerkschaftsführern einzuheizen: Im ersten Stock des weiß getünchten Hauses mit den typisch hellblauen Fensterläden, das noch die Zentrale der mächtigen Einheitsgewerkschaft UGTT beherbergt, sind die etwa 80 Mitglieder des Verwaltungsrates zusammengekommen. Sie wollen entscheiden, ob sie zum Generalstreik aufrufen sollen, um den Rückzug der Minister der ehemaligen Regierungspartei RCD aus der Übergangsregierung zu erzwingen.

Der Wille der Basis ist klar: Auf den vielen handgemalten Schildern, die überall hochgehalten werden, ist zu lesen: „RCD hau ab“ und „Keine RDC-Minister in der Regierung.“ „Generalstreik“ ruft ein Mann durch ein Megafon in Richtung der geschlossenen Fenster im ersten Stock. Alle applaudieren. Doch die Menschen auf der Straße sind skeptisch. Sie wissen, dass die Gewerkschaften möglicherweise die einzige Kraft in Tunesien darstellen, die eine Regierungsneubildung erzwingen könnte. Die Gewerkschaften, die über 500 000 Mitglieder haben, sind regional gut organisiert und haben maßgeblich zum Sturz von Präsident Ben Ali beigetragen. Doch sie wissen auch, dass ihr Generalsekretär und andere Funktionäre dem Regime zur Seite standen. „In unserer Führung müssen wir auch unbedingt aufräumen“, sagt ein älterer Mann, der einen knielangen Ledermantel und eine Schiebermütze trägt. „Aber jetzt ist nicht der richtige Moment“, meint der etwa 60-Jährige, der lange selbst Arbeitervertreter der Eisenbahner war und wie alle anderen auf einen Streikaufruf hofft.

Eine gute Woche nach der Flucht des Präsidenten ist das Land tief gespalten über die Übergangsregierung, die vom langjährigen Ministerpräsidenten Mohammed Ghannouchi geführt wird. Insbesondere Innenminister Ahmed Friaa ist für viele ein rotes Tuch: Am 12. Januar noch von Ben Ali ernannt, hatte er in seiner ersten Rede nach dessen Sturz die Plünderer kritisiert, die Besitztümer der Präsidentenfamilie angegriffen und dem Land und seiner Wirtschaft großen Schaden zugefügt hätten. Das große Thema der Tunesier dagegen ist, wie Ben Ali das Land ausgesaugt hat. Auch Verteidigungsminister Ridha Grira ist für viele der Inbegriff des alten Systems – als Minister für Öffentliches Eigentum hatte er der habgierigen Präsidentenclique Anteile in Staatsunternehmen und Filet-Grundstücke aus Staatsbesitz zugeschanzt. In allen Städten des Landes demonstrieren Tausende weiter. Das Misstrauen gegenüber dem alten Regime, das am 7. November 1987 nach einem Coup mit dem Slogan „Neuanfang“ angetreten war, ist zu groß.

Die bisherige geduldete Oppositionspartei PDP sieht das anders. Was wenig überrascht, denn sie hat ein Ministeramt angenommen. Der stellvertretende Generalsekretär der Partei, Ellouze Mongi, erklärt die Entscheidung damit, dass es sich bei den Ereignissen nicht um eine Revolution im wissenschaftlichen Sinn handelt: „Die Revolte war spontan und ohne politische Führung, daher ist zwar der Despot gestürzt, aber nicht die Strukturen des Regimes.“ Mongi schiebt leere Teegläser auf seinem Schreibtisch zur Seite, die von zahlreichen Besprechungen zeugen, und drückt eine Zigarette in dem überfüllten Aschenbecher aus. Jetzt gibt es laut Lehrbuch nur zwei Möglichkeiten: Eine Zerschlagung aller Institutionen des alten Regimes, was zu Chaos führen und die Armee auf den Plan rufen würde. „Unsere Freunde, die uns kritisieren, verstehen dieses Risiko nicht“, meint Mongi. Die Alternative ist laut Mongi ein Übergangsprozess in Kooperation mit dem Ancien Regime. „Wir bringen den Druck der Straße an den Kabinettstisch“, rechtfertigt der geschulte Parteifunktionär die Position. Und er verweist auf die ersten Erfolge. Dass die Polizei in den Universitäten aufgelöst wurde, sei ein Verdienst seiner Partei. Die erste Rede des Innenministers sei in der Tat eine „Riesendummheit“ gewesen, sagt Mongi. „Wir drängen auf eine öffentliche Entschuldigung“ versichert er, aber die hat es bisher nicht gegeben.

Während es an mächtigen Symbolen fehlt, die den Neuanfang signalisieren, scheint die Übergangsregierung auf Taten zu setzen. Die Regierung rief nach der ersten Kabinettssitzung eine dreitägige Staatstrauer für die „Märtyrer“ aus und will die Familien entschädigen, Untersuchungskommissionen zu Korruption und Niederschlagung der Revolte wurden eingesetzt, weitere Mitglieder des Präsidentenclans festgenommen und ein Inventar all ihrer Besitztümer angelegt, die jetzt in Staatsbesitz sind. Die Zensur ist aufgehoben, eine Generalamnestie in Vorbereitung. Eigentlich ein fast fehlerfreier Parcours. Doch viele Menschen verstehen nicht, warum bisher kein Gericht die Regierungspartei aufgelöst hat. Angesichts der Verbrechen ihrer Milizen während der Revolte wäre dies nach Ansicht von Juristen leicht möglich.

Am Abend herrschen vor dem Sitz der Gewerkschaft Unmut und Ratlosigkeit. Die Menschen diskutieren aufgebracht. Die Führung hat bekräftigt, dass sie eine neue Regierung fordert ohne Vertreter der Ex-Regierungspartei. Aus diesem Grunde hatte sie auch Anfang der Woche drei Vertreter zurückgezogen, die eigentlich in die Regierung gehen sollten. Aber einen Streik soll es nicht geben. „Was sollen wir denn mit dieser unentschlossenen Haltung anfangen“, fragt ein junger Mann. „Von selbst werden die RCD-Minister niemals loslassen“, fürchtet er.

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