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Polizisten in Philadelphia sperrten am Dienstag zum Teil Straßen in West-Philadelphia ab.

© Anna Sauerbrey

Twenty/Twenty täglich – noch 6 Tage bis zur US-Wahl: Wie Philadelphia gegen Polizeigewalt demonstriert

Nach dem Tod eines Schwarzen ist die Stadt in Aufruhr. Wie sie damit umgeht – und wo Joe Biden Prozente verliert. Unser US-Newsletter, jetzt täglich.

Von Anna Sauerbrey

Die USA sind im Wahl-Endspurt. Deshalb informieren wir sie in den kommenden zwei Wochen in unserem US-Newsletter „Twenty/Twenty“ täglich über die Geschehnisse in den Vereinigten Staaten. Heute schreibt Anna Sauerbrey ihre Eindrücke aus dem aufgewühlten Philadelphia auf. Zum kostenlosen Abo geht es hier.

Ein Mann mittleren Alters zieht an einem Joint und grummelt: „Warum stellen sie die Barrikaden nicht auf ihrer Seite auf, da vor der Polizeistation?“ Er steht auf der überdachten Veranda eines einstöckigen, etwas heruntergekommenen Hauses an der Pine Street im Westen Philadelphias und passt auf, dass keine Fotografen oder Demonstranten auf sein „Heiligtum“ klettern, wie er diesen Ort nennt. Es ist 21 Uhr abends und vor seinem Haus stehen ein paar hundert Menschen. Polizisten in Kampfmontur mit Helmen und Schilden sperren die Straße ab, um zu verhindern, dass die Demonstranten bis direkt vor das Polizeigebäude auf der anderen Seite einer Kreuzung aufrücken.

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„Fuck the police“, skandieren die Demonstranten. „No justice, no peace“. Und immer wieder rufen sie einen Namen: „Walter Wallace!” Am Montag ist in Philadelphia der 27-jährige, psychisch kranke Walter Wallace Junior von der Polizei erschossen worden. Die Familie hatte selbst die Notfallnummer gewählt und gebeten, ein Krankenwagen möge kommen. Als die Polizei eintraf, ging Wallace mit einem Messer in der Hand auf eine Gruppe Polizisten zu. Er wurde von 14 Schüssen getroffen. Schon am Montagabend protestierten daraufhin im ärmeren und überwiegend von schwarzen Amerikanern bewohnten Westteil der Stadt Hunderte Menschen.

"Walter Wallace, Rest in Peace" wurde auf eine Häuserwand in Philadelphia gesprüht.
"Walter Wallace, Rest in Peace" wurde auf eine Häuserwand in Philadelphia gesprüht.

© Anna Sauerbrey

In der Nacht kam es zu Gewalt und Plünderungen, weitere Menschen wurden verletzt. Am Dienstagabend blieb es bis etwa 21 Uhr friedlich. In den schicken Einkaufsstraßen nutzten Einzelhändler die Zeit, um noch schnell ihre Schaufenster zu vernageln. Nach einer Weile geben es die Demonstranten in der Pine-Street auf, bis zur Polizeiwache zu gelangen. Der Demonstrationszug dreht ab und zieht zurück in Richtung Hochbahn-Station. Mehr als die Hälfte sind weiße Jugendliche und junge Erwachsene, ein bis zwei Dutzend sind ganz in Schwarz gekleidet, tragen Helme bei sich, schwarze Gesichts- und improvisierte Gasmasken. Ein junger Mann trägt einen Schild.

Auf der Straße liegen die Glassplitter der zerbrochenen Scheiben von Bushaltestellen und Autos aus der Nacht zuvor. Drohnen und Hubschrauber kreisen über der Gruppe, immer wieder streift das Flutlicht des Hubschraubers die Menschen. Ein weißer Mann ganz in Schwarz richtet einen Laserpointer gen Himmel. Eine junge Frau zieht eine Spraydose aus ihrer Tasche und schreibt auf die Bretter, mit denen ein Laden vernagelt ist: „Walter Wallace Jr. R.I.P.“, dazu sprüht sie ein Herz. „Fuck the police“, schreit ein junger Mann eine Gruppe Polizisten an, die eine Tankstelle schützen.

Zwischenzeitlich ergaben sich tumultartige Szenen.
Zwischenzeitlich ergaben sich tumultartige Szenen.

© Anna Sauerbrey

„Warum müssen meine Kinder in so einer Welt aufwachsen?“

„Die machen auch nur ihren Job“, schreit ein älterer schwarzer Mann zurück. Er bahnt sich gegen den Strom seinen Weg durch die Menge. Laura, eine junge weiße Frau mit angeklebten Wimpern und Glitzerlidschatten, lehnt gegen eine Hauswand und wiederholt immer wieder: „Warum müssen meine Kinder in so einer Welt aufwachsen? Das macht doch keinen Sinn.“ Ein junger Schwarzer lehnt sich aus dem Fenster seines Pick-ups und brüllt herüber: „Haut ab! Das hier ist unser Kampf. “Gegen 21 Uhr 30 plötzlich Sirenengeheul. Wie aus dem Nichts tauchen Dutzende Polizisten auf Fahrrädern auf, andere rennen aus den Seitenstraßen herbei.

Zwischen den Stahlträgern der Hochbahn kommt es zu einem Handgemenge. Etwa zeitgleich meldet die Polizei Plünderungen in anderen Teilen der Stadt und fordert die Bürger in sieben Bezirken auf, ihre Häuser nicht mehr zu verlassen. Erst am späten Montagabend bin ich in Philadelphia angekommen, um Christoph von Marschall und unsere Korrespondentin Juliane Schäuble zu verstärken. In den nächsten Tagen werde ich aus Pennsylvania berichten – einem wichtigen Swing State, der 20 der 538 Wahlmänner im Electoral College stellt und am Wahlabend entscheidend sein könnte.

Die politische Ausbeutung des Vorfalls hat bereits begonnen

Während ich das schreibe, gegen Mitternacht amerikanischer Zeit, ist die Lage in der Stadt weiter unübersichtlich, die politische Ausbeutung der Ereignisse hat aber bereits begonnen. Auch dieser Tod eines Schwarzen durch Polizeigewalt zieht nationale Aufmerksamkeit und Proteste nach sich. Im September wurde in Kenosha Jacob Blake erschossen, im Mai starb in Portland George Floyd, nachdem ein Polizist minutenlang auf seinem Hals gekniet hatte. Im März war die Krankenschwester Breonna Taylor bei einem Schusswechsel ihres Freundes und der Polizei in ihrer Wohnung erschossen worden.

Die Unruhen in diesem Jahr nutzte Trump schonmal für einen "law and order"-Wahlkampf

Donald Trumps Wahlkampfteam hatte die darauf folgenden Unruhen zum Anlass genommen, das Thema „law and order“ zu spielen. Zu den Ausschreitungen in Philadelphia hat sich der Präsident selbst nicht geäußert. Es ist unklar, wie lange die Proteste anhalten. Sein Sohn Donald Trump Junior retweetete allerdings mehrere Nachrichten zu den Protesten, und Trumps Wahlkampfteam spielte Internetwerbung aus, die einen Tweet des Präsidenten von Anfang Oktober zeigt: „LAW & ORDER. VOTE!“ Ob die Proteste in Philadelphia groß genug sind, um für den Wahlkampf ein zentrales Thema zu werden, ist unklar. "Ob sich das auf den Wahlkampf auswirkt, kommt darauf an, wie lange und wie heftig die Proteste ausfallen, ob es weiter Plünderungen gibt. Wenn ja, wird Trump sagen: Seht her, wenn ihr mich abwählt, wird das zunehmen", sagte mir am Mittwochvormittag Christopher Borick, Professor am Muhlenberg College, das auch wichtigste Meinungsumfragen zur Politik in Pennsylvania erstellt.

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Sie erinnern aber daran, dass die Wahl noch nicht entschieden ist. Auch wenn Joe Biden weiterhin der klare Favorit ist: In den Umfragen nimmt sein Vorsprung auf Trump leicht ab. Vor 17 Tagen, am 11. Oktober, betrug er 10,3 Prozentpunkte. Jetzt sind es nur noch 7,1 Prozentpunkte. Im Durchschnitt aller Umfragen in den „battleground states“ lag Biden am 13. Oktober im Schnitt fünf Prozentpunkte vorn, jetzt sind es nur noch 3,5 Prozentpunkte. Eine gute Nachricht für Biden aber könnte sein, dass unter den 70 Millionen Amerikanern, die schon ihre Stimme abgegeben haben, besonders viele junge Wähler sind.

Der Anteil unter den jungen Frühwählern ist im Vergleich zu 2016 gestiegen

Ihr Anteil unter den Frühwählern ist im Vergleich zu 2016 deutlich gestiegen. Jetzt hoffen die Demokraten darauf, dass junge Wähler in diesem Jahr insgesamt häufiger zur Wahl gehen – und nicht nur, dass sie das frühzeitige Wählen besonders toll finden (hier lesen Sie übrigens ein Interview von Juliane Schäuble mit dem Biden-Biographen Evan Osnos). Die Proteste waren, muss ich zugeben, ein ziemlich heftiger Auftakt für diese Reise. Dabei hatte sich die Stadt am Nachmittag von einer ganz anderen Seite gezeigt.

Heute ist in Philadelphia der letzte Tag, an dem die Briefwahl beantragt werden kann. Für die Demokraten ist Philadelphia, wo auf sieben Demokraten nur ein Republikaner kommt, sehr wichtig, um Pennsylvania zu gewinnen. Die Stadtverwaltung unter dem demokratischen Bürgermeister Jim Kenney tut alles, um möglichst viele Wähler zu mobilisieren. In mehr als einem Dutzend Briefwahlbüros kann man alles hintereinander machen: die Wahl beantragen, die Unterlagen ausfüllen und abgeben. Trotzdem bildeten sich vor vielen Wahllokalen lange Schlangen.

„Gut, dass ich meinen Stuhl mitgebracht habe“, sagt Mary, eine pensionierte Verwaltungsmitarbeiterin und setzt sich vor der City Hall auf ihren Rollator. Freiwillige verteilen Pizza, Müsliriegel, Wasser und Briefwahlanträge auf Clipboards. Eine Band spielt. „Es dauert bis zu drei Stunden“, erklärt ein junger Freiwilliger der älteren Dame. „Ich warte“, sagt Mary entschlossen.

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