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Politik: Über die Schmerzgrenze

Von Malte Lehming

Nie war er so wertlos wie heute. Er, das ist der Westen. Dessen Kern bilden die USA, die Nato, die Europäische Union. Dieser Westen wurde durch die Anschläge vom 11. September 2001 herausgefordert. Seine neuen Gegner sind seither militante Islamisten und international operierende Terroristen. Im Kampf gegen sie gibt es mehrere Fronten, ganz vorne auf der militärischen und diplomatischen Agenda stehen Afghanistan, der Irak, der Iran, Nahost. Doch überall ist der Westen in die Defensive geraten. Ein Schritt vor, zwei zurück – die Bilanz des Antiterrorkampfs ist düster.

Einige Meldungen aus den vergangenen Tagen: Al Qaida lebt, im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet wurden neue Trainingslager gebaut, Logistik und Infrastruktur erneuert. US-Präsident George W. Bush fleht, die Nato-Partner mögen auf Beschränkungen ihrer Truppen für einen Einsatz im Süden des Landes verzichten, wovon sich die Bundesregierung natürlich nicht angesprochen fühlt. Kanada denkt über einen Abzug seiner Soldaten nach, falls die Kräfte im Süden nicht aufgestockt werden. Die Präsidenten Irans und Syriens geloben sich ewige Treue. Ein Dreiergipfel in Ramallah – USA, Israel, Palästina – endet ergebnislos. Die in Mekka getroffene Übereinkunft zwischen Fatah und Hamas wird zwar von den arabischen Staaten anerkannt, nicht aber vom Nahostquartett und Israel. Und in Washington quält sich eine Regierung damit, die Reste ihrer missratenen Irakpolitik nicht vom Parlament korrigieren zu lassen. Ein würdeloses Schauspiel.

Streit, Blockade, Stillstand: Die Schwäche des Westens hat nichts mit einer Pechsträhne zu tun, sondern verläuft linear. Je länger sie dauert, desto gravierender wird sie. Ihr Signum ist Ratlosigkeit, gekoppelt an phrasenhafte Durchhalteparolen. Weiß irgendein Stratege, wie Irak- und Afghanistankrieg zu gewinnen und die Länder zu stabilisieren sind? Kein einziger. Eine Koalition zunehmend Unwilliger wurschtelt sich durch, schickt hierhin ein paar mehr Soldaten, dorthin ein paar Tornados. Der Aktionismus soll ein Konzept vorgaukeln und die bittere Einsicht ins Gescheitertsein verschieben. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Leider kann es trotzdem sein. Gewitzte Despoten (Mahmud Ahmadinedschad) und demokratisch legitimierte Autokraten (Wladimir Putin) spüren das längst. Was auf uns tollkühn und maßlos wirkt, ist in Wahrheit höchst rational. Sie prüfen, wie geschlossen wir noch sind, wo unsere Schmerzgrenze liegt und unsere Selbstachtung beginnt. Sie prüfen das, weil wir es selbst nicht mehr wissen. Test the West, unsere Schwäche ist ihre Stärke.

Die Erinnerungen an die einstürzenden Türme des World Trade Center verblassen. Sie tragen die Widerstandsenergie nicht mehr. Und die Moral? Geheime CIA-Gefängnisse, Abu Ghraib und Guantanamo haben sie angegriffen. Der Westen gleicht einem wütenden, einem blinden Elefanten, der zwar noch zertrampeln kann, was sich ihm in den Weg stellt, aber die Orientierung verloren hat. In dieser Woche läuft das Iranultimatum des UN-Sicherheitsrats ab. Bis dahin muss Teheran sein Atomprogramm eingestellt haben, womit keiner rechnet. Weiß einer, wie es weitergeht – neue Resolution, schärfere Sanktionen? Oder kommt es zum nächsten Krieg, mit womöglich noch katastrophaleren Folgen als im Irak? Manche hoffen auf ein Wunder, weil diese Hoffnung das Letzte ist, was ihnen die Realität gelassen hat.

Die Hauptursache der tiefen militärisch-diplomatischen Krise des Westens ist der desolate Zustand der US-Regierung. Nato und EU sind als heterogene Gebilde, die in zu kurzer Zeit (zu) viele neue Mitglieder aufnahmen, aus sich heraus ohnehin zu keinen Großtaten fähig. Wie sehr wir auf eine kluge Führung durch die letzte verbliebene Supermacht angewiesen sind, merken wir erst in dem Moment, wo eine solche Führung nicht bloß fehlt, sondern sich in ihr Gegenteil verkehrt hat. Niemand kann dieses Vakuum füllen, auch die Bundesrepublik nicht, die derzeit den Vorsitz in G 8 und EU hat. So wie jetzt geht es zwar noch gerade, aber nicht mehr lange weiter.

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