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Politik: Über Pinochet verlieren die gleichauf liegenden Kandidaten der Präsidentschaftswahl kein Wort

Die Kandidaten veranstalten Hupkonzerte in den Straßen der chilenischen Hauptstadt, die Meinungsforscher sind verzweifelt, und ein alter Mann ist plötzlich aus der Versenkung eines Londoner Nobelvororts aufgetaucht. Einen Tag vor der Stichwahl für die Präsidentschaft sind das die wichtigsten Meldungen.

Die Kandidaten veranstalten Hupkonzerte in den Straßen der chilenischen Hauptstadt, die Meinungsforscher sind verzweifelt, und ein alter Mann ist plötzlich aus der Versenkung eines Londoner Nobelvororts aufgetaucht. Einen Tag vor der Stichwahl für die Präsidentschaft sind das die wichtigsten Meldungen. Und sie besagen: Es ist völlig unklar, wer am Sonntag neuer chilenischer Präsident wird. Den Meinungsinstituten will es partout nicht gelingen, eine Prognose zu erstellen, in der entweder der Sozialist Ricardo Lagos oder der Rechtspopulist Joaquin Lavin vorne liegt. Die Chilenen können sich nicht entscheiden. Bei jeder neuen Umfrage kommt nur ein Unentschieden heraus. Am 12. Dezember vergangenen Jahres hatten die rund 15 Millionen Chilenen zum ersten Mal die Wahl. Eigentlich hatten Beobachter erwartet, dass der 62-jährige Lagos von der regierenden Mitte-Links-Koalition das Rennen macht. Doch Lavin, der 46-jährige Rechtsanwalt und ehemals glühender Pinochet-Bewunderer, schnitt so gut ab, dass die Stichwahl notwendig wurde. Für einen Sieg reicht nun die einfache Mehrheit.

Ausgerechnet in der Woche vor der Wahl meinte die Londoner Regierung, ihr diplomatisches Problem namens Augusto Pinochet lösen zu müssen. Der greise Ex-Diktator sitzt seit 15 Monaten seinen Hausarrest in England ab und sollte eigentlich in Spanien vor Gericht gestellt werden. Ein ärztliches Gutachten aber, über das schon seit einigen Tagen heftig gestritten wird, ermöglicht es Innenminister Straw, Pinochet aus gesundheitlichen Gründen freizulassen. In Chile änderte sich schlagartig die Situation. Der eher langweilige Stichwahlkampf, in dem den Kandidaten keine neuen Argumente mehr einfielen, hatte wieder eine spannende Komponente bekommen. Die Frage lautet: Wem nutzt die mögliche Freilassung des Ex-Diktators mehr? Antwort: Keinem.

Lavin hatte, solange Pinochet noch unter Arrest war, die Möglichkeit, sich von ihm und seiner eigenen Vergangenheit zu distanzieren. Schließlich war der Anwalt einst wirtschaftspolitischer Berater des Diktators. Im Wahlkampf hatte sich Lavin Schritt für Schritt von den Anhängern Pinochets und den Traditionalisten im Militär entfernt. Dafür handelte er sich prompt den Vorwurf ein, ein "Verräter" zu sein. Im Gegenzug sammelte er fleißig Stimmen im gemäßigten bürgerlichen Milieu und sogar bei den Sozialisten. Es half ihm auch, dass zwar mit dem "Verschwinden" Pinochets einerseits die Diskussion über die Vergangenheit offener geführt werden konnte, andererseits viele die schmerzhafte Geschichte vergessen wollten. Lavin sprach lieber über die drängenden Probleme wie Arbeitslosigkeit, Armut, Kriminalität. Sollte Lavin also die Wahl gewinnen und Pinochet zurückkehren, dann bliebe mit Sicherheit die blutige Vergangenheit Chiles fest verschlossen.

Auch Lagos kann nicht glücklich sein über die Entscheidung Londons. Seine Sozialisten haben sich sehr zum Ärger der Menschenrechtler und der Linken für eine Freilassung eingesetzt. Das Argument lautete stets, Chile müsse das Recht haben, einen eigenen Prozess gegen den Senator auf Lebenszeit zu führen. Das war schlicht gelogen. Denn die Sozialisten wissen genau, dass dafür Pinochets Immunität im Land aufgehoben werden müsste, was nur über eine Änderung der Verfassung möglich ist. Straffreiheit gehörte einst zu den Bedingungen Pinochets, freie Wahlen überhaupt zuzulassen.

So ist es nicht überraschend, dass weder Lagos noch Lavin in den Stunden vor der Wahl das Thema Pinochet ansprachen. Stattdessen wurden über Lautsprecherwagen letzte Botschaften ans Volk geschrien. Ein paar Ausschreitungen gab es auch noch. Aber die waren harmlos - was die Meinungsforscher nicht glücklich machte.

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