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Überblick: Wahlurne Europa

Schicksalswahl für den britischen Premier Brown, ein schwedischer Pirat nach Straßburg und andere Details von der größten Abstimmung des Kontinents: Eindrücke aus den Mitgliedsländern der Union.

GROSSBRITANNIEN

In Großbritannien dürften Umfragen und Exit-Polls zufolge die euroskeptischen Konservativen von David Cameron die klaren Gewinner der Europawahlen geworden sein. Aber die Aufmerksamkeit galt dem Abschneiden der Labourpartei und der Splitterparteien. Mehrere Prognosen sagten voraus, dass die Labourpartei auf den vierten Platz hinter den Liberaldemokraten und die europafeindliche UK Independence Party (UKIP) zurückfallen könnte. Die Wähler wollten alle großen Parteien, besonders aber die Partei des unpopulären Premiers Gordon Brown für den Spesenskandal im Unterhaus und die Wirtschaftskrise abstrafen. Gewinne gab es auch bei den Rechtsextremen: Der Chef der Britische Nationalpartei BNP dürfte nach ersten Ergebnissen ins Europaparlament einziehen.

Vom Abschneiden Labours hängt die Zukunft des von Parteirebellionen bedrohten Premiers Brown ab. UKIP-Chef Nigel Farage sagte, sein Wahlerfolg werde dessen Schicksal besiegeln. Tatsächlich wollen Labour-Rebellen aufgrund der Wahlergebnisse entschieden, ob sie grünes Licht für die so genannte „Hotmail-Verschwörung“. geben. Bis zu 100 Hinterbänkler, heißt es, seien bereit, per Email den Rücktritt des Premierministers zu fordern. Matthias Thibaut

ÖSTERREICH

Die regierenden Sozialdemokraten mussten in Österreich eine schwere Schlappe hinnehmen: Mit 23,8 Prozent fuhren sie das schlechteste Ergebnis bei einer nationalen Wahl seit 1945 ein. Aber auch die konservative Volkspartei ÖVP konnte von den Verlusten des Koalitionspartners nicht profitieren: Sie wurde zwar mit 29,7 Prozent stärkste Kraft, verlor aber drei Prozentpunkte im Vergleich zur vergangenen Wahl. Verluste gab es auch für die Grünen.

Die Gewinner der Europawahl in Österreich waren die EU-kritischen Kräfte: Überraschend hohe Zugewinne gab es für die Liste des EU-Rebellen Hans-Peter Martin, die mit 17,9 Prozent (+ 3,9 Prozent) sogar auf dem dritten Platz landete. Österreichs rechtsgerichtete Freiheitliche Partei (FPÖ) konnte nach einem von den anderen Parteien als ausländerfeindlich bis antisemitisch kritisierten Wahlkampf ihre Stimmen mit plus 6,8 Prozent auf 13,1 Prozent mehr als verdoppeln. Tsp

IRLAND

Der Gründer der antieuropäischen Libertas-Partei, der Geschäftsmann Declan Ganley, konnte nach ersten Teilergebnissen wohl keinen Sitz im Europaparlament erringen. Ganley hat versprochen, er werde im Falle einer persönlichen Niederlage nicht in der Lage sein, die Kampagne gegen den EU-Vertrag von Lissabon im zweiten irischen Referendum anzuführen, das im Oktober erwartet wird. In Dublin deuteten die Indizien darauf hin, dass die einstige Staatspartei Fianna Fáil kein einziges Mandat erringen würde. Dieser Absturz wurde unverkennbar in den Resultaten der irischen Kommunalwahlen abgebildet, die ebenfalls am Freitag abgehalten wurden. Die beiden irischen Regierungsparteien, die dominante Fianna Fáil und ihr kleiner, grüner Koalitionspartner, erlitten dabei eine demütigende Niederlage. Sie erhielten die Quittung dafür, dass sie sich im Umgang mit der Wirtschaftskrise nicht immer durch überragende Fachkompetenz auszeichneten. Fianna Fáil wurde überdies für ihre zu große Nähe zu dubiosen Bankern und Spekulanten während der guten Jahre bestraft. Martin Alioth

TSCHECHIEN

Die europaskeptischen Parteien erhielten in Tschechien nach ersten Ergebnissen einen empfindlichen Dämpfer. Demnach scheiterten sie an der Fünf-Prozent-Hürde. Die bürgerlich-demokratische Partei ODS, in der es aber auch einen einflussreichen eurokritischen Kern gibt, ging mit etwa 29 Prozent als Siegerin aus der Wahl hervor. Auf Platz zwei landeten die Sozialdemokraten mit 24 Prozent vor den Kommunisten (15 Prozent). Wegen der tschechischen Ratspräsidentschaft wurden die Prager Ergebnisse der EU-Wahl mit Spannung erwartet. Vor allem der Streit um den Lissabon-Vertrag sowie der Sturz der Regierung von Premier Mirek Topolanek überschatteten den Urnengang. Die Wahl gilt in Prag als Testlauf für die vorgezogenen Neuwahlen im Oktober.

Als klarer Verlierer der Wahlen gilt der tschechische Präsident Václav Klaus. Er ist immer wieder hart mit den Institutionen der EU und vor allem mit dem Lissabon-Vertrag ins Gericht gegangen. Dass die beiden kleinen europaskeptischen Parteien den Sprung ins EU-Parlament wahrscheinlich nicht geschafft haben, wird in Tschechien als Dämpfer für Václav Klaus gewertet. Innerhalb der ODS allerdings herrscht Uneinigkeit über die Haltung zur EU. Erst vor kurzem wurden Überlegungen der ODS laut, zusammen mit den britischen Konservativen und der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit eine neue Fraktion im Europaparlament zu gründen, die sich skeptisch zur EU-Integration positionieren soll.Kilian Kirchgessner

SCHWEDEN

Vom Beginn einer neuen linksliberalen Volksbewegung sprachen bereits Kommentatoren. Denn die schwedischen Internetpiraten segeln nach Brüssel. Sie erreichten bei der Wahl Umfragen zufolge aus dem Stand 7,4 Prozent. Damit kann die schwedische Piratenpartei (PP) einen Abgeordneten nach Straßburg schicken. Bei den Wählern unter 30 Jahren stimmte sogar jeder Fünfte für die PP. Dementsprechend groß war der Jubel bei der selbstverständlich live im Internet übertragenen Wahlparty im schlichten Stockholmer Restaurant Nymble an der Königlichen Technische Hochschule.

Noch vor ein paar Wochen lagen die Umfragewerte nur bei vier Prozent. Gerade das umstrittene Gerichtsurteil gegen die Betreiber der Internet-Tauschbörse Pirate Bay soll für den Erfolg verantwortlich gewesen sein, auch wenn die Pirate-Bay-Betreiber offiziell nicht zur PP gehören. Die Piratenpartei brachte auch viele junge Menschen an die Urnen, die sonst nicht wählen gehen. Zusätzlich sollen Wähler der Linken und Grünen zur PP gewechselt sein. Die 2006 gegründete Partei steht für die Legalisierung des nicht-kommerziellen Gratistausches von Musik, Filmen und anderen Dateien. „Das absurde Gefängnisurteil gegen die Pirate Bay ist für den Zulauf mitverantwortlich. Es geht um einen Generationenkonflikt, zwischen denen, die sich das Internet aneignen mussten, und denen die damit aufgewachsen sind“, sagte der PP-Vorsitzende Christian Engström dem Tagesspiegel. Die PP ist heute mit rund 43 000 Mitgliedern die drittgrößte Partei Schwedens. Andre Anwar

POLEN

Premierminister Donald Tusk kann aufatmen. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in der EU wurde die polnische Regierung von der Wählern nicht abgestraft. Die Bürgerplattform (PO) des Premiers erhielt nach dem vorläufigen Ergebnis 45,3 Prozent der abgegebenen Stimmen. Auf Platz zwei kam die national-konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski mit 29,5 Prozent. Das Ergebnis zeigt, dass der ehemalige Premier Kaczynski mit seinem rüden Wahlkampf in den vergangenen Tagen keinen Erfolg hatte. Als die Umfragen eine deutliche Niederlage der PiS voraussagten, hatte er versucht, mit persönlichen Angriffen gegen Tusk und antideutschen Parolen zu punkten.

Allerdings lag die Wahlbeteiligung in Polen mit 27,4 Prozent deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Grund für die Wahlabstinenz ist offensichtlich der katastrophale Kenntnisstand in Sachen Europa. Wie eine Umfrage ergab, weiß nur die Hälfte der rund 30 Millionen Wahlberechtigten in Polen, dass die Abgeordneten des Europaparlaments direkt vom Volk bestimmt werden. Knut Krohn

FRANKREICH

Die konservative Regierungspartei UMP ist in Frankreich erwartungsgemäß als Sieger aus der Europawahl hervorgegangen. Nach den Hochrechnungen für zwei TV-Sender entfielen auf sie rund 28 Prozent der Stimmen. Für Präsident Nicolas Sarkozys Partei wäre dieses Ergebnis das beste seit der ersten Europawahl 1979. Der oppositionellen Sozialistischen Partei (PS) stand am Wahlabend mit prognostizierten 17 Prozent eine bittere Niederlage bevor. Sie zahlt damit für die lange innerparteiliche Lähmung nach der verlorenen Präsidentschaftswahl 2007. Für eine Überraschung sorgte die von dem Grünen Daniel Cohn-Bendit geschmiedete Allianz Europe-Ecologie, die mit etwa 16 Prozent auf dem dritten Platz landete. Hans-Hagen Bremer

MALTA

Das kleinste EU-Land glänzte mit vergleichsweise hoher Wahlbeteiligung. Knapp 79 Prozent der etwa 320 000 Berechtigten gaben bereits am Samstag ihre Stimme ab – 2004 lag die Beteiligung mit 82 Prozent noch etwas höher. Der christdemokratische Premier Lawrence Gonzi (Nationalist Party) lobte nun: „Das maltesische Volk hat die Bedeutung des Europäischen Parlamentes für ihren Alltag begriffen.“ Die regierenden Konservativen erlitten jedoch mit 41 Prozent eine empfindliche Schlappe. Die oppositionellen Sozialdemokraten (Labour Party) kamen auf 55 Prozent. Ralph Schulze

ITALIEN

Dem italienischen Regierungschef Silvio Berlusconi haben seine Frauenaffären offenbar nicht geschadet: Seine Partei „Volk der Freiheit“ geht als Sieger aus der Europawahl hervor. Der ersten Hochrechnung am Sonntag um 23 Uhr zufolge hat Berlusconis „Volk der Freiheit“ 39 Prozent eingefahren; das sind zwei Punkte mehr als bei der Parlamentswahl 2008. Die Demokratische Partei, größte Kraft der Mitte-Links-Opposition, ist gegenüber der Parlamentswahl 2008 um 5,4 Punkte abgestürzt und kommt auf 27,5 Prozent. Gewonnen hat in den Oppositionsreihen nur der frühere Mailänder Star-Staatsanwalt Antonio Di Pietro, der mit seinem Wahlverein „Italien der Werte“ seinen Stimmenanteil gegenüber 2008 von 4,4 auf 7,8 Prozent beinahe verdoppeln konnte. Di Pietro fährt als einziger einen aggressiven, populistischen Anti-Berlusconi-Kurs und wirft den anderen Oppositionskräften Laxheit vor. Paul Kreiner

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