zum Hauptinhalt

Überfordert uns die Corona-Krise?: „Staat und Zentralbank können in tiefe Taschen greifen“

DIW-Ökonom Claus Michelsen über mögliche Folgen der Corona-Krise und die Notwendigkeit großer Milliardenprogramme.


Claus Michelsen (40) leitet die Abteilung Konjunkturpolitik des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und gehört zu den Top 50 der deutschen Ökonomen laut FAZ-Ranking. Er kam nach dem Studium in Erfurt und Halle-Wittenberg 2013 ans DIW. 

Herr Michelsen, die Corona-Krise stellt uns alle vor ungeahnte Probleme. Worauf kommt es jetzt aus der Sicht eines Ökonomen vor allem an?

Auf entschiedene politische Gegenmaßnahmen, um sowohl die wirtschaftlichen Folgen als auch die gesundheitspolitischen Probleme meistern zu können. Das ist die entscheidende Frage: Gelingt die richtige Abwägung zwischen Wirtschafts- und Gesundheitspolitik? Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen. Bei all den notwendigen Einschnitten aus gesundheitspolitischen Gründen muss immer auch bedacht werden, wie weit man dabei gehen soll. Denn wir brauchen schon ein Minimum an wirtschaftlicher Aktivität, um auch das Gesundheitswesen am Laufen halten zu können. Zwischen kompletter Offenheit und dem völligen Herunterfahren muss der richtige Weg gefunden werden.

Schaut man sich die Konjunkturprognosen an, dann fällt auf, dass die Ökonomen weit auseinander liegen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung erwartet ein recht niedriges Minus von 0,1 Prozent bei der Wirtschaftsleistung in Deutschland im Gesamtjahr 2020. Andere Institute liegen teils deutlich darüber. Bis zu vier Prozent Minus, heißt es da. Ein Wirtschaftshistoriker will mit Blick zurück ins Jahr 1929 sogar minus 20 Prozent nicht ausschließen. Untertreiben Sie, übertreiben andere?

Wir haben uns ganz bewusst für ein optimistisches Szenario entschieden, weil wir von der Erfahrung mit anderen Epidemien ausgegangen sind, wie die frühere Sars-Krise im Jahr 2002/2003 etwa oder später die Schweinegrippe. Da schnellten die Fallzahlen stark nach oben, um sich dann wieder zu normalisieren. Entsprechend brach die Wirtschaft kurzfristig stark ein, um sich dann bald wieder zu erholen. Dieses Szenario, das im Verlauf einem V entspricht, halten wir für plausibel. Aber es ist eine Momentaufnahme, die mit großer Unsicherheit behaftet ist. Die nun getroffenen, weitreichenden Einschnitte sind ohne Beispiel. Der jetzt beschlossene Lock-down legt deutlich tiefer greifende Konsequenzen nahe, als wir es in unserem V-Szenario durchgerechnet haben.

Was ist, wenn die Krise sich doch länger hinzieht, vielleicht auch deshalb, weil die Abwägung  zwischen wirtschafts- und gesundheitspolitischen Erwägungen nicht gelingt?

Sollte sich die Krise länger hinziehen und der Absturz noch tiefer sein, dann ist auch das sogenannte L-Szenario nicht auszuschließen – also ein schwerer und anhaltender Einbruch der Wirtschaftsleistung, die sich jedoch nicht so schnell erholt, sondern für eine längere Phase von einem geringerem Niveau ausgehend nur geringfügig wächst. Dies ist ein absolutes Negativszenario. Es ist allerdings die Frage, wie stark man davon jetzt schon ausgehen muss. Wir wollen kein Horrorszenario in die Welt setzen. Solche Prognosen haben ja auch immer eine psychologische Wirkung, weil sich solche Zahlen in den Köpfen festsetzen. Sicher ist aber eines: Deutschland wird eine Rezession erleben, unklar ist nur, wie schwer sie ausfällt und wie lange sie sich hinzieht. Wir werden eine Entwicklung zwischen L und V erleben.

Worauf kommt es da an?

Das Herunterfahren der Wirtschaft, durch Fabrikschließungen aus Produktionsgründen oder wegen politischer Auflagen spielt eine entscheidende Rolle. Die Frage ist: Wie lange halten wir es durch, auf bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten zu verzichten? Denn irgendwann schlägt das Herunterfahren auf den Arbeitsmarkt durch. Noch ist der Arbeitsmarkt ja sehr gut aufgestellt. Die Unternehmen käme es momentan sehr teuer zu stehen, wenn sie jetzt qualifizierte Beschäftigte entließen und sie nach der Krise wieder neue finden müssten. Aber ein Unternehmen, das mit einer Normalisierung binnen zwei Monaten rechnet, verhält sich anders als eines, das bis zum Jahresende mit starken Einschränkungen kalkulieren muss. Dann lohnt sich das Geschäft ja möglicherweise nicht mehr. Wir sollten da nicht nur auf die Großbetriebe schauen. Auch der Ausfall eines kleinen Mittelständlers, der ein wichtiges Teil in einer Produktkette herstellt, kann immense Folgen haben. Das System zu erhalten, ist daher die wichtigste Aufgabe der Politik.

Welche Folgen hätte ein L-Szenario?

Es käme zu mehr Firmenpleiten, eine Rückkopplung ins Bankensystem wäre dann nicht auszuschließen, mit erheblichen Verwerfungen. Ein Aufflammen der Staatsschuldenkrise wäre wohl eine weitere Konsequenz. Man muss sich ja nur die Zinsunterschiede bei den Anleihen Italiens und Deutschlands anschauen, die sind schon wieder extrem hoch.

Sind Eurobonds die Lösung?

Ja. Italien könnte unter den bestehenden Rettungsschirm ESM gehen, der sich dann mit eigenen Anleihen versorgt, für die alle Länder der Euro-Zone haften. Das wär ein wichtiges Signal. Die Finanzierungssituation ist ja günstig, also wäre es machbar.

EZB-Chefin Christine Lagarde hat nun ein weiteres Aufkaufprogramm mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro angekündigt. Zu viel? Zu wenig?

Es ist ein sehr kräftiger Schritt, der nach dem bisherigen Zögern der EZB richtig ist. Sie hat bei den Zinsen nicht den Spielraum wie die amerikanische Fed, daher sind die Aufkäufe ein starkes Signal an die Märkte, dass die Zentralbank der Euro-Zone handlungsfähig ist. Aber die EZB allein kann es nicht geradebiegen. Die Staaten können sich nicht mehr hinter ihr verstecken. Sie müssen nun aktiver werden.

Welche Schritte sind nötig?

Ein Mittel ist tatsächlich eine Art Helikoptergeld-Lösung, wie sie nun Finanzminister Olaf Scholz mit dem Hilfsfonds und einige Landesregierungen mit weiteren  Maßnahmen für kleine Selbstständige umsetzen wollen. Das garantiert einer bestimmten Gruppe das wirtschaftliche Überleben. Diesen Kleinstunternehmern kann man nicht anders helfen. Die 40 Milliarden Euro, die Scholz genannt hat, können für ein halbes Jahr deren Einkommen sichern. Es geht auch recht unbürokratisch über die Finanzämter oder mit einfachen Antragsformularen wie in Bayern.

Angesichts der Summen dürfte vielen Menschen schwummrig werden, zumal ja die Folgen der Finanzkrise noch gar nicht ganz ausgestanden waren. Übernehmen sich Regierung und Zentralbank da nicht? 

Nein, beide Institutionen können in tiefe Taschen greifen. Die über eine Neuverschuldung finanzierten 40 Milliarden Euro für den genannten Fonds etwa entsprechen etwas mehr als einem Prozent der Wirtschaftsleistung. Sie würden die Schuldenstandsquote in Relation entsprechend gering nach oben hieven – also auf etwas über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, was den Maastricht-Kriterien entspricht. Auch Spielraum für andere Maßnahmen ist vorhanden. Der drastische Anstieg der Staatsschuldenquote wie in der Finanzkrise, als das Bankensystem gerettet werden musste, ist durch die bislang beschlossenen Maßnahmen noch nicht zu erwarten. Die großen Rücklagen in den Kassen der Arbeitslosenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung können ebenfalls angezapft werden. Es ist für den deutschen Staat schon leistbar, jetzt große Summen aufzurufen. Andere Staaten in Europa, allen voran Italien, stehen nicht so gut da. Für diese Länder braucht es eine europäische Lösung, soll die Währungskrise nicht zurückkommen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false