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"United Stasi of America" projizierte der deutsche Künstler Oliver Bienkowski Anfang Juli an die Hauswand der US-amerikanischen Botschaft in Berlin.

© AFP

Überwachung: War die Stasi im Vergleich zur NSA nur ein Papiertiger?

Die Enthüllungen der Abhöraktivitäten des US-Geheimdienstes NSA haben in Deutschland einen erwartbaren Reflex ausgelöst: Das Agieren der Amerikaner wird mit der Schnüffelpraxis der DDR-Staatssicherheit verglichen. Ist das legitim? Der Journalist und Historiker Christian Booß hat die entscheidenden Unterschiede in 15 Punkten herausgearbeitet.

„Mich erinnert die Debatte um das Abhören an die DDR und die Stasi. Jetzt kommt vieles in verändertem Gewand wieder. Plötzlich beschleicht mich das Gefühl: Was die Stasi noch unter fürchterlichem Aufwand betrieb hat man heute mit 15 Mausklicks beisammen.“ Der Autor Uwe Tellkamp, der sensibel das Leben im SED- und Stasi-Staat beschrieb und diese Worte in der "Zeit" vom 4. Juli 2013 äußerte, ist verständlicherweise wie viele verunsichert.

Nach den Meldungen über die Metaüberwachung via USA/NSA werden viele zumindest kurz hämisch geschmunzelt haben, als sie von der polemischen  Projektion "Vereinigte Stasi von Amerika" hörten.  Derartige Schnellassoziationen kommen vielen, das Wort Stasi 2.0 ist schon lange im Schwange. Und sicher trägt dieses Gefühl auch vieles richtige in sich: Das Misstrauen gegenüber Orwells Negativvision. Und schließlich sind diese Reflexe auch ein Erfolg der jahrelangen Aufarbeitung des "Mielke-Konzerns". Dorthin will keiner zurück, nicht einmal Ostalgiker.

Was derzeit beängstigt sind vor allem die Datenmengen, die gescannt und gespeichert werden. Angeblich 15 Millionen internationale Telefongespräche und 10 Millionen Internetverbindungen werden täglich allein in Deutschland aufgefangen, wie der "Spiegel" schrieb.

Die Stasi fertigte aus 1,2 Millionen Telefonaten, die sie im Jahr 1985 in der DDR, außerhalb von Berlin aufgezeichnet hatte, gerade mal 11 000 Berichte an. Täglich sollen nach Stasi-Statistiken 90 000 Briefe abgefangen worden sein. Die schnelle Bilanz scheint offenkundig. Dennoch sei die Frage erlaubt, ob es nicht trotz allen Misstrauens relevante Unterschiede gibt, insbesondere was die Rahmenbedingungen der Überwachung betrifft: 

 Informationsmonopol:

Das wäre Erich Mielke nie passiert. Geheimdienstpannen, die es auch in der DDR zuhauf gab, wurden nicht in den Medien des eigenen Landes ausgebreitet. Da war nicht nur die Stasi davor, sondern das faktische Pressemonopol der SED.

Geheimdiplomatie:

Auch öffentlichen Kritik der Bündnispartner und Rechtfertigungsversuche der eigenen Regierung hätte die Stasi nicht zu befürchten gehabt. Diese Formen der Öffentlichkeit sind aber in einer offenen Gesellschaft die Voraussetzung dafür, dass politisches Handeln korrigiert werden kann. In der DDR musste erst das System selbst stürzen, bevor eine offene Diskussion über Fehlentwicklungen möglich war.

Kommunikationsbeschränkungen:

Die derzeit in der Kritik stehenden Überwachungsmethoden sind eine problematische Antwort auf neue globale Kommunikationsmöglichkeiten. Diese gab es in der DDR nicht und man kann sich fragen, ob sie sie überhaupt zugelassen hätte.

Geschlossenes System:

Die DDR war weitgehend verriegelt. Alles was dennoch nach draußen ging, insbesondere die Kommunikation mit dem Westen, wurde totalüberwacht. Das fing mit der Überwachung des Reiseverkehrs an, der Sicherheitsüberprüfung der DDR-Bürger, die reisen wollten. Die vergleichsweise wenigen Telefonkabel waren unter Kontrolle, jeder Westbrief, jedes Westpäckchen wurde zumindest in die Hand genommen.

Totale Indiskretion:

Die Stasi hatte weniger Interesse an den Metadaten, sondern griff gleich auf die Inhalte durch. Briefe wurden massenweise kopiert, in Karteien oder Akten dauerhaft aufgehoben. Telefonate wurden transkribiert in die Akten gegeben.

Grundrechtssuspendierung:

In der DDR gab es zwar auf dem Papier Grundrechte, die die Kommunikation des Einzelnen schützten. Aber sie waren nicht einklagbar, es hätte sich schlicht kein Gericht dafür gefunden.

Unbeschränkte Macht der Stasi-Offiziere:

In der DDR waren zwar auch Richter und Staatsanwälte dafür zuständig, über die Einschränkung der persönlichen Freiheitsrechte zu entscheiden. Faktisch konnte das MfS dies massenweise unterlaufen. Nicht der Richter, sondern jeder kleine Operativoffizier konnte aus nichtigem Anlass eine Postkontrolle veranlassen.

Keinerlei rechtliche Beschränkung:

Für die Eingriffe des MfS gab es keinerlei rechtliche Ermächtigung, sieht man von generalklauselartigen allgemeinen Beschreibungen der MfS-Aufgaben ab.

Eine neue Überwachungsqualität?

Keine Kontrolle:

In der DDR gab es keinerlei Kontrolle über die Abhör- und Postkontrollmaßnahmen des MfS. Weder die Regierung, noch das (Pseudo-)Parlament) oder gar ein Datenschutzbeauftragter sahen dem MfS auf die Finger. Es ist nicht einmal klar, inwieweit selbst die SED in das wirkliche Ausmaß der Überwachung eingeweiht war.

Keine Löschungsfristen:

In der DDR wurden vom MfS zwar auch Daten gelöscht, aber nach reinen Nützlichkeitserwägungen. Löschfristen gab es nicht. Im Prinzip blieben  Personendaten ein lebenslanges Datenstigma.

Keine Zugangsbeschränkungen:

In der DDR hatte das MfS im Prinzip Zugang zu den Informationen aus allen Datenspeichern. Regelmäßig bediente es sich an den Datenspeichern des Innenministeriums. Aber auch Sozial-, Gesundheits- oder Wohnungsdaten waren kein Tabu. Die Zugangsbarrieren waren allenfalls technische, automatische Datenabgleiche waren damals noch unterentwickelt.

Ziel der Totalerfassung der Bevölkerung:

Die DDR war technologisch rückständig. Dennoch war die Stasi dabei, einen Personenspeicher aufzubauen, in dem ständig Einzelinformationen zu Personen gespeichert wurden. Tendenziell wäre die gesamte DDR-Bevölkerung im MfS-Zentralcomputer erfasst worden.

Ausspähung der eigenen Bevölkerung:

Die Stasi verfolgte, wenn man es freundlich sieht, auch klassische Abwehrziele gegenüber westlichen Geheimdiensten. Aber meist ging es gegen die eigene Bevölkerung. Die Ziele der Datenerfassung und -Speicherung des MfS waren vollkommen diffus. Alles, was vom Mfs als "operativ" relevant oder staatssicherheitsrelevant eingestuft wurde, wurde erfasst.

Intime Persönlichkeitsbilder:

Der wahllose unkontrollierte Zugriff auf Briefe, Telefonate, personenbezogene Daten in Verbindung mit Informationen von inoffiziellen Mitarbeitern und anderen Informanten, verschaffte dem MfS höchst intime Einblicke in das Privatleben der Bürger.

Direkte Verwendung der Daten:

Die Informationen des MfS konnten unkontrolliert unmittelbar verwendet werden. Damit wurden Karrieren von Personen beschädigt, Individuen oder Gruppen zersetzt  oder Strafverfolgungsmaßnahmen vorbereitet und Personen in Geheimverfahren kriminalisiert, ohne dass die Betroffenen jemals eine Chance gehabt hätten, den Urheber solcher Maßnahmen und seine Informationen dingfest zu machen.

Die bange Frage lautet, ob die neue Quantität der Überwachung nicht schon lange in eine neue Überwachungsqualität umgeschlagen ist, die die Stasi als eine Überwachung Light erscheinen lässt. Und manche der skizzierten Unterschiede basieren eher auf dem Prinzip Hoffnung, dass vage Informationen über die Dauerspeicherung von Massendaten oder die Ausschaltung der richterlichen Kontrolle und Überprüfbarkeit sich als unwahr herausstellen möchten. Die Beschäftigung mit dem MfS hat auf jeden Fall eines gebracht: Sie hat unsere Sinne und unseren Intellekt, vielleicht auch unseren Freiheitswillen gestärkt, dass wir jetzt die richtigen Fragen stellen können, wo bisher nur ausgewichen wird.

Christian Booß

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