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Glück gehabt. In diesem Dorf in Sachsen-Anhalt gibt es offenbar noch einen Arzt.

© Armin Weigel/dpa

Exklusiv

Umfrage: Ostdeutsche sind deutlich unzufriedener: Abgehängt bei der Gesundheitsversorgung

Womöglich wahlbeeinflussend: Im Osten hadern mehr Bürger mit der Gesundheitsversorgung als im Westen. Die Grünen raten zu Rückbesinnung auf DDR-Strukturen.

In Ostdeutschland sind die Bürger mit der Gesundheitsversorgung am eigenen Wohnort weit unzufriedener als im Westen. Bei der Frage danach – gestellt vom Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH) – liegen Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Sachsen abgeschlagen am untersten Ende der Skala. Während sich dort nicht einmal jeder Zweite gut oder sehr gut versorgt fühlt, sind es in Bayern und Hamburg zwei von drei Befragten.

Die Umfrage hat auch deshalb Brisanz, weil in Brandenburg und Sachsen in eineinhalb Wochen gewählt wird. Für den Ausgang dieser Wahlen könnte aus Expertensicht das Grundgefühl vieler Ostdeutscher, gegenüber dem Westen im Lebensalltag benachteiligt und abgehängt zu sein, eine wesentliche Rolle spielen.

"Alarmsignal für Politik und Gesellschaft"

Auch dieses Gefühl spiegelt sich im aktuellen Befragungsergebnis. Die Bewohner der ostdeutschen Länder bewerten nämlich nicht nur die eigene Versorgungssituation schlechter als der Durchschnitt der Deutschen. Sie idealisieren gleichzeitig auch die gesamtdeutsche Versorgungssituation, geben ihr bessere Noten als der Durchschnitt aller Befragten. Und sie beurteilen die Zukunft der Gesundheitsversorgung für Gesamtdeutschland positiver als für den eigenen Wohnort.

BAH-Hauptgeschäftsführer Hubertus Cranz nennt die Ergebnisse „ein Alarmsignal für Politik und Gesellschaft“. Die Gesundheitsversorgung vor Ort leiste "einen enormen Beitrag zum allgemeinen Wohlbefinden der Bevölkerung". Sie müsse gerade in strukturschwachen Regionen konsequent gefördert werden.

Brandenburger sind am unzufriedensten

Am unzufriedensten sind der Umfrage zufolge die Brandenburger. Nur 45 Prozent verpassen der Gesundheitsversorgung dort die Schulnote Eins oder Zwei. In Mecklenburg-Vorpommern sind es 46, in Sachsen-Anhalt 48 und in Sachsen 49 Prozent. Nur in Thüringen ist die Einschätzung mit 53 Prozent etwas positiver.

Zum Vergleich: In Bayern finden die Befragten die Versorgung an ihrem Wohnort zu 66 Prozent gut oder sehr gut. Es folgen Hamburg mit 64 sowie Baden-Württemberg und Berlin mit jeweils 61 Prozent. Der Zufriedenheits-Durchschnitt aller Befragten liegt bei 60 Prozent. Allerdings spielt dabei auch die Ortsgröße eine gewichtige Rolle: Je größer der Wohnort, desto höher die Zufriedenheit. Und die ostdeutschen Länder sind größtenteils ländlich geprägt. Es gibt dort nur sieben Städte mit mehr als 200.000 Einwohnern.

Bei der gesundheitlichen Versorgung müsse man je nach Wohnort differenzieren, betont der Dresdener Politikwissenschaftler Hans Vorländer. Während man in den Städten gute Anlaufstellen habe, gebe es auf dem Land erhebliche strukturelle Probleme. "Wenn Sie irgendwo in Ostsachsen einen Facharzt brauchen müssen sie womöglich bis nach Bautzen oder Dresden fahren. Dann kommt noch das Problem des fehlenden öffentlichen Nahverkehrs dazu."

Politikwissenschaftler warnt: AfD könnte solche Stimmungen nutzen

Der Frust vieler Ostdeutscher habe aber "natürlich auch mit den Erfahrungen aus der DDR-Zeit zu tun, wo es mit den Polikliniken zentrale und gut erreichbare Anlaufstellen gab", sagte Vorländer dem Tagesspiegel. Nun müsse man sich von einem Facharzt zum andern überweisen lassen, komme auf deutlich längere Wartezeiten.

Dem Gefühl der Benachteiligung ländlicher Regionen entspreche „eine tatsächliche Vernachlässigung der Infrastruktur“, meint auch der Politikwissenschaftler Claus Leggewie. Und dazu gesellten sich im Osten die „schwerer objektivierbaren Gefühlslagen“, nach 1990 ignoriert worden zu sein. Beides, so warnt der Gießener Professor, werde „von der AfD in einer so durchsichtigen wie infamen Weise ausgenutzt, um Stimmung zu machen und Stimmen zu gewinnen“. Dabei seien die Rechtspopulisten, weil sie ja von „Gefühlen der Benachteiligung“ zehrten, gar nicht daran interessiert, deren Gründe zu beseitigen.

Grüne: Abschied von Polikliniken und Gemeindeschwestern war ein Fehler

Die Grünen dagegen präsentieren ein Rezept gegen den Ärzte- und Versorgungsmangel in ländlichen Regionen: Sie fordern eine Rückbesinnung aufs DDR-Gesundheitswesen. Nach 1990 habe man den Ostdeutschen „Strukturen und Regeln übergestülpt, die insbesondere für ländliche Räume ungeeignet waren und heute dort eine gute Versorgung erschweren“, heißt es in einem vierseitigen Strategiepapier von Gesundheitsexperten der Partei, das dem Tagesspiegel vorliegt. Unterzeichnet haben es unter anderem die Spitzenkandidatin der Grünen in Brandenburg, Ursula Nonnemacher, und die gesundheitspolitischen Sprecher der Landtagsfraktionen in Sachsen und Thüringen, Volkmar Zschocke und Babett Pfefferlein.

Aus ideologischen Gründen und wirtschaftlichen Interessen seien etwa „kooperative Angebote wie Landambulatorien und Polikliniken eingestampft und die Gemeindeschwestern abgeschafft“ worden, heißt es in dem auch von den Experten der Bundestagsfraktion signierten Papier. Es sei „keine Nostalgie, zu sagen, dass der Westen sich zumindest in diesen Fragen etwas vom Osten hätte abschauen können.“ Denn ohne kooperative Versorgungsformen und geänderte Aufgabenteilung zwischen den Gesundheitsberufen sei der demographische Wandel mit immer mehr älteren Patienten nicht zu bewältigen.

Die klassische Einzelpraxis sei keine hinreichende Antwort mehr auf die Zunahme chronischer Erkrankungen. Und sie sei auch nicht mehr attraktiv für junge Mediziner, die sich mehr Flexibilität wünschten.

Höhere Kassenzuweisungen für Patienten in vernetzten Gesundheitsregionen

Konkret schlagen die Grünen vor, sogenannte Gesundheitsregionen aufzubauen, in denen Ärztenetze, Kliniken, Krankenkassen, Pflegezentren und Apotheken die medizinische Versorgung gemeinsam organisieren. Um einen Anreiz für entsprechende Verträge zu setzen, sollten die Kassen für Versicherte dieser Region höhere Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds erhalten. Ziel sei, dass im Jahr 2025 zehn Prozent der Versicherten in derartigen Regionen versorgt werden. Und bei der Vergütung müsse künftig „Qualität statt Quantität“ belohnt werden, also auch der stärkere Einsatz für Gesundheitsförderung und Prävention.

Der Politikwissenschaftler Leggewie lobt diesen Vorstoß. Das DDR-Gesundheitswesen habe bekanntlich große Schwächen gehabt, sei aber „weniger auf betriebswirtschaftliche Rendite und Effizienz ausgerichtet“ gewesen, sagte er. „Medizinische Versorgung ist keine Ware. Die genannten kooperativen Elemente zu stärken, passt also zu Reformansätzen, die auch in anderen Landesteilen der Republik zu empfehlen sind.“

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