zum Hauptinhalt
Richtung Hoffnung. Millionen fliehen vor Gewalt und Not. Nicht nur im Nahen Osten oder in Afrika, sondern auch in Mittelamerika. So versuchen viele Menschen wie diese hier, aus Guatemala über den Grenzfluss Suchiate nach Mexiko zu gelangen.

© Anna Surinyach/Ärzte ohne Grenzen

UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres: „Wir rechnen mit noch mehr Leid und Elend im kommenden Jahr“

UN-Flüchtlingskommissar Guterres befürchtet, dass 2015 neue Kriege beginnen - und noch mehr Menschen zu Flüchtlingen werden. Und er beklagt die begrenzten Möglichkeiten der Weltgemeinschaft, die Entstehung von Konflikten zu verhindern.

Herr Guterres, nach Ihren Berechnungen waren 2014 mehr als 51 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Unterdrückung. Befürchten Sie im kommenden Jahr eine Verschärfung der Krise?

Ja. Leider sind wir fest davon überzeugt, dass die Lage sich weiter verschlimmert, bevor sie hoffentlich einmal wieder besser wird. Wir rechnen mit noch mehr Leid und Elend im kommenden Jahr.

Wie kommen Sie zu dieser pessimistischen Sichtweise?
Die vielen andauernden Konflikte etwa in Syrien oder dem Südsudan drohen komplexer zu werden und weitere Menschen zur Flucht zu zwingen. Zudem befürchte ich, dass 2015 neue Kriege beginnen. Noch mehr Männer, Frauen und Kinder werden dann ihre Heimat verlassen müssen. In der jüngsten Vergangenheit brachen jedes Jahr neue Konflikte aus, die Tod und Verderben brachten. Denken sie an die Ukraine und an die Zentralafrikanische Republik. Kaum jemand hat diese Konflikte vorausgesagt.

UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres.
UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres.

© dpa

Die vielen Konflikte der vergangenen Jahre haben immer mehr Menschen vertrieben?
Ja. Wir haben in den vergangenen Jahren einen exponenziellen Anstieg der Zahl der neu vertriebenen Menschen erlebt. 2011 wurden täglich 14 000 Menschen vertrieben. 2012 waren es 23 000 pro Tag, und 2013 waren es schon 32 000 Vertriebene pro Tag. Alles deutet darauf hin, dass diese Zahl auch 2014 steigt.

Warum lässt die Weltgemeinschaft das zu?
Die Fähigkeit der Weltgemeinschaft, die Entstehung von Konflikten zu verhindern und Kriege zu beenden, ist sehr begrenzt. Es mangelt an einer globalen Lenkung. Der UN-Sicherheitsrat, das höchste Entscheidungsgremium der Weltorganisation, ist in vielen Fällen paralysiert. Ich sehe keine Zeichen einer Besserung.

Sie appellieren immer wieder an die Weltgemeinschaft und die Regierungen, die Konflikte zu lösen und die Not der Kriegsopfer zu lindern. Es passiert aber nichts. Sind Sie enttäuscht und frustriert?
Zu sagen, ich sei enttäuscht und frustriert, ist untertrieben. Heute haben wir eine chaotische Lage in der internationalen Gemeinschaft. Wir leben in einer Welt, in der Unsicherheit und Straffreiheit die bestimmenden Faktoren sind.

Der Konflikt in Syrien hat die weltweit schlimmste Flüchtlingskatastrophe verursacht. Die Vereinten Nationen und ihre Partner brauchen für 2015 mehr als acht Milliarden US-Dollar, um fast 18 Millionen notleidenden Menschen im Bürgerkriegsland selbst und der Region zu helfen. Werden die Regierungen und andere Geber das Geld bereitstellen?
Wir hoffen es. 2014 haben wir nicht alle benötigten Gelder für Syrien erhalten. Wir sind weit davon entfernt, alle bedürftigen Menschen zu versorgen. Ich muss mich aber besonders bei den syrischen Nachbarländern bedanken. Sie haben bei Weitem die meisten Flüchtlinge aufgenommen, obwohl ihre Ressourcen erschöpft sind.

Von den reichen Staaten hat Deutschland die meisten syrischen Flüchtlinge aufgenommen. Wie beurteilen Sie die deutsche Hilfe?
Deutschland hat einen außergewöhnlich großzügigen Beitrag geleistet. Wir sind dafür sehr dankbar. Wenn alle entwickelten Länder wie Deutschland gehandelt hätten, wären heute weitaus weniger Syrer in einer derart dramatischen Lage.

Jetzt aber wird in Deutschland gegen Flüchtlinge und eine angebliche Islamisierung Stimmung gemacht. Befürchten Sie, dass die Bundesrepublik auf eine restriktivere Flüchtlingspolitik einschwenkt?
Alle Gesellschaften der Welt werden vielfältiger. Die Menschen sollten diese Entwicklung als Bereicherung und nicht als Bedrohung begreifen. Sie sollten auch zwischen dem Islam als Religion und islamistischen Fanatikern unterscheiden. Terrororganisationen wie der „Islamische Staat“ repräsentierten nicht den Islam.

Antonio Guterres (65) ist seit 2005 UN-Flüchtlingskommissar. Von 1995 bis 2002 war er Portugals Regierungschef, für einige Zeit zudem Präsident der Sozialistischen Internationale.

Jan Dirk Herbermann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false