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Ziel Europa. Ein überfülltes Flüchtlingsboot auf dem Weg nach Lampedusa.

© dpa

Unaufhaltsam: Die große Flucht

Jedes Jahr brechen Zigtausende für eine vermeintlich bessere Zukunft nach Europa oder in die USA auf. Viele kommen nie dort an. Es ist ein Drama, das doch keiner wahrnehmen will. Was bewegt sie, was nehmen sie auf sich und wie verändern sie unsere Welt?

TUNESIEN – PARIS

„Hierher kann jeder kommen, für alle gibt es etwas zu essen“, sagt Lakhdar, ein etwa 30-jähriger Mann algerischer Herkunft. Er zeigt auf das große Transparent am Kopfende des riesigen Zelts: „Une chorba pour tous.“ Eine Schlange hat sich vor dem Eingang gebildet. Geduldig harren die Wartenden in dem kühlen Wind aus, der nach diesem heißen Spätsommertag über die Straßenkreuzung an der Porte des Lilas im Pariser Osten fegt. Im Zelt herrscht eine feierliche Stille. Männer, Frauen, Kinder, ganze Familien, sitzen an langen Tischen, vor sich Tabletts mit einer Schale dampfender Suppe, einer Chorba, wie der Gemüseeintopf mit Fleisch arabisch heißt, dazu ein Weißbrot, ein Apfel, Datteln, Joghurt und Wasser. Keiner sagt ein Wort. Es ist Ramadan, und niemand isst, bis um 21.04 Uhr aus einem Lautsprecher das Zeichen zum Fastenbrechen übertragen wird, das der Muezzin der Moschee von Paris aussendet.

„Mehr als 400 Essen haben wir jetzt verteilt“, sagt Lakhdar, „noch einmal so viele sind für die draußen Wartenden vorbereitet.“ An manchen Tagen sind es bis zu tausend Mahlzeiten, die hier abends an Bedürftige aus dem Maghreb, dem Nahen Osten und Schwarzafrika – viele von ihnen Einwanderer oder Flüchtlinge ohne Aufenthaltspapiere – ausgegeben werden. Seit 1992 existiert die von zwei in Frankreich zu Wohlstand gekommenen Algeriern gegründete Hilfsorganisation „Eine Suppe für alle“.

Inam wird gleich irgendwohin in der Dunkelheit der Großstadt verschwinden. Der klein gewachsene junge Mann mit dunklen Haaren und zartem Bartflaum aus Gabes in Tunesien, der sein Alter mit 17 Jahren angibt, wirkt schüchtern. Aber er ist nur müde. Nun muss er sich einen anderen Platz für die Nacht suchen. In dem Foyer, das die Hilfsorganisation France Terre d’Asile mit Unterstützung der Stadt Paris in der Rue St. Honoré für minderjährige oder erkrankte tunesische Flüchtlinge eingerichtet hat, ist kein Platz frei. Aus Geldmangel wird es demnächst schließen müssen. „Ich werde wieder in einem Park oder unter einer Brücke schlafen“, sagt Inam mit einem fatalistischen Lächeln.

Im Februar war er von Gabes Richtung Europa aufgebrochen. „Ich wollte mein Leben ändern“, sagt er, „nach der Revolution war das die Gelegenheit.“ Die 2000 Euro für die Überfahrt auf dem mit 145 Passagieren überbesetzten Fischerboot zur italienischen Insel Lampedusa hatte er sich von seiner Familie geliehen. „Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst“, erinnert er sich, „aber die Italiener haben uns das Leben gerettet.“ Per Bahn ging es dann nach Norden. Ein Tunesier schenkte ihm das Ticket.

In Nizza holte ihn die französische Grenzpolizei aus dem Zug. Er hatte keine Papiere. „Als Minderjähriger hat man in Tunesien keine Papiere“, berichtet er. Das Dokument, in dem die italienischen Behörden aufgrund eines Scans seiner Hand bestätigten, dass er noch minderjährig sei, wurde von der französischen Polizei nicht anerkannt. Sie wollte ihn abschieben und erklärte ihn nach einem neuerlichen Scan für volljährig. Doch abschieben konnte sie ihn auch dann nicht. Denn Samia Maktouf, eine Pariser Rechtsanwältin tunesischer Herkunft, hatte sich inzwischen seines Falles angenommen und gegen die Entscheidung der Polizei Berufung eingelegt. Inam würde gern arbeiten. Er hat Schweißer gelernt. Aber er muss weiter warten. Einmal war er nahe dran, in einen Hungerstreik zu treten. Aber jetzt sagt er: „Ich will mich durchsetzen. Für mich gibt es kein Zurück.“

Nahe dem Park Montsouris im 14. Pariser Arrondissement trägt seit Februar ein Platz den Namen Mohamed Bonanzizi, zum Gedenken an den jungen Mann, der durch seine Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010 den Aufstand gegen das Regime des tunesischen Diktators Ben Ali auslöste. Die Ehrung geht auf eine Initiative des in Tunesien geborenen Stadtoberhaupts Delanoe zurück. „Der Bürgermeister hat das Ansehen Frankreichs gerettet“, sagt die Anwältin Maktouf. „Er hilft, wo er kann, aber seine Mittel sind begrenzt.“

Etwa 20 000 Tunesier haben seit Anfang des Jahres in der Hoffnung auf ein besseres Leben den gefährlichen Weg über Lampedusa nach Frankreich auf sich genommen. Nach dem Willen der Pariser Regierung sollten sie nicht bleiben. Wie viele von ihnen noch da sind, wo sie untergekommen sind, ist unbekannt. Auch die Zahl derer kennt man nicht, die nach Italien zurückgeschickt wurden, weil Frankreich die von Italien aus humanitären Gründen ausgestellten temporären Aufenthaltsgenehmigungen für den Schengenraum nicht anerkannte. Doch dass diese Praxis abgestellt wurde, rechnet sich Maître Maktouf als ihr Verdienst an.

Vor dem Pariser Verwaltungsgericht hatte sie gegen den Ausweisungsbeschluss der Polizeipräfektur gegen den Tunesier Amer Ben Messaoud geklagt. Der 25-Jährige, der mit einem der von Italien ausgestellten „humanitären“ Pässe eingereist war, sollte als illegaler Ausländer abgeschoben werden. In einem von der Öffentlichkeit kaum beachteten Beschluss gab ihr das Gericht Ende Juni Recht. Es erkannte das italienische Dokument als legal an und verurteilte die Präfektur zur Ausstellung einer provisorischen Aufenthaltsgenehmigung für Frankreich und zur Zahlung einer Entschädigung von 1500 Euro. „Es war eine Ohrfeige für die Regierung“, sagt Maktouf, „Berufung hat sie gar nicht erst eingelegt.“ Ben Messaoud hat inzwischen in Marseille eine Stelle in einem Restaurant gefunden.

Etwa 400 Fälle von tunesischen Flüchtlingen hat die Anwältin in den vergangenen Monaten übernommen. „Alle ehrenamtlich“, betont sie. Im Gespräch berichtet sie von dem Katz-und-Maus- Spiel, das sich Flüchtlinge wie Saber, ein anderer Tunesier, mit der Polizei liefern. Der junge Mann war viermal festgenommen und jedes Mal von einem starken Polizeiaufgebot spätabends bei Ventimiglia in der freien Natur ausgesetzt worden. Doch am nächsten Tag fand er immer wieder nach Paris zurück.

Maktouf erhält Besuch. Ein Klient, der 30-jährige Nouridine aus Mednine im Süden Tunesiens, der ebenfalls über Lampedusa nach Frankreich gekommen war. Wegen einer schweren Nierenerkrankung hatte er schon früher zur Behandlung nach Frankreich kommen wollen, aber nie ein Visum erhalten. Jetzt ist er da, und nach der Diagnose der Ärzte am Krankenhauses Georges Pompidou müsste er unbedingt operiert werden. Vor dem Zugriff der Polizei ist er sicher, aber der Eingriff muss immer wieder verschoben werden, weil die Kostenübernahme durch die Sozialversicherung ungeklärt ist. Und wo er bleibt, wenn das Foyer in der Rue St. Honoré schließt, weiß er nicht.

Zu Beginn des Gesprächs in der Kanzlei klingelt das Telefon. Ein Arzt aus einem anderen Pariser Krankenhaus kündigt an, dass Rafik, ein von Maktouf vertretener Tunesier, aus der Behandlung entlassen werden soll. Der 22-Jährige hatte sich bei Landsleuten im Pariser Vorort Nanterre versteckt und war vor drei Monaten, als die Polizei eines Morgens vor dem Haus vorfuhr, aus Angst aus dem Fenster gesprungen. Wegen schwerer Knochenbrüche musste er dreimal operiert werden. Jetzt ist er an einen Rollstuhl gefesselt. Aber weitere Eingriffe seien nicht vorgesehen, sagt der Arzt, und mehr könne man nicht für ihn tun. Die Anwältin kann sich nur mit Mühe beherrschen. Auf dem Display ihres Mobiltelefons holt sie ein Foto des Verletzten im Rollstuhl hervor. „Das ist doch nicht möglich“, hält sie dem Anrufer entgegen. „Sie können ihn doch nicht einfach so ohne Begleitung in einem Rollstuhl auf die Straße schicken?“

Nach einer Weile klingelt das Telefon erneut. Der Arzt ist wieder dran. Er teilt ihr mit, dass Rafik auf der Toilette gestürzt sei und sich erneut verletzt habe: „Er wurde in die Notaufnahme eingewiesen.“

Lesen Sie auf der nächsten Seite über eine Flucht von Afghanistan nach Berlin.

AFGHANISTAN – BERLIN

Mohammed R. (Name geändert, Red.) hat vier Jahre gebraucht, bis er seine Eltern wiedergefunden hat. Er war 13, als seine Eltern entschieden, ihr Dorf in der ostafghanischen Provinz Ghazni zu verlassen. Eine kriminelle Bande habe die Familie tyrannisiert, sagt der Vater. „Wir waren nicht mehr sicher“, sagt die Mutter. Also bezahlten sie einen Schlepper, der ihnen zugesagt hatte, sie nach Deutschland zu bringen. Die erste Station führte die Familie, zu der neben Mohammed auch noch eine ältere Schwester gehört, über die Grenze in den Iran. Doch schon dort zeigte sich, dass der Schlepper gelogen hatte. Die Familie zog weiter nach Van in der Türkei. Und da endete die gemeinsame Flucht. „Die Grenzpolizei schoss in die Luft“, berichtet Mohammed. Die Eltern und die Schwester wurden gefasst und wieder nach Afghanistan abgeschoben. Mohammed gelang es abzuhauen.

Er fand Zuflucht bei einem Schlepper, für den er ein Jahr lang arbeitete. Im Haus des Mannes wechselten die Gäste wöchentlich. Der Schlepper vertröstete Mohammed über Monate, seine Eltern würden bald kommen, sagte er. Doch irgendwann mochte Mohammed daran nicht mehr glauben. Er schloss sich drei jungen Männern an, die nach Istanbul gehen wollten. „Eine große Stadt“, sagt Mohammed. Gemeinsam kauften sie sich ein Ruderboot, um von Izmir nach Griechenland überzusetzen. „Die Polizei hat uns erwischt“, berichtet Mohammed. Es war der erste von vielen Gefängnisaufenthalten auf dem Weg nach Deutschland.

Nach knapp drei Wochen in einem geschlossenen Lager wurden sie nach Athen geschickt. „Ich kannte dort niemanden“, sagt Mohammed. Geschlafen habe er im Freien, unter dem Dach einer Kirche. Dort fand ihn ein Grieche, der ihn in die Parks und auf die Straßen schickte, um Tee zu verkaufen. Als er von der Polizei erwischt wurde, musste er fünf Tage im Gefängnis verbringen, bekam aber dann eine Aufenthaltserlaubnis für einen Monat. Mit 500 Euro machte sich Mohammed wieder auf den Weg. Auf einer stillgelegten Bahnstrecke lief er mit ein paar Freunden nach Mazedonien. Von dort ging es weiter Richtung Kosovo und Serbien. Der Weg über die Grenze dauerte 14 Stunden. Es regnete in Strömen. Per Anhalter erreichten sie Belgrad. Als sie aussteigen wollten, wurden sie von Zivilpolizisten festgenommen.

Die Haft in Serbien sei „schlimm“ gewesen, sagt Mohammed. 20 Tage war er eingesperrt, die Toilette war in einer Gemeinschaftszelle und hatte keine Tür. Eines Nachts hatte er Zahnschmerzen und bat die Wärter um eine Schmerztablette. Doch die hätten ihm nur ein paar Ohrfeigen verpasst. „Nach den Schlägen hatte ich kein Zahnweh mehr“, sagt Mohammed und lacht, als hätte er einen Witz erzählt. Nach 20 Tagen kam er frei mit der Auflage, innerhalb von einer Woche das Land zu verlassen. Mohammed verließ Serbien Richtung Ungarn. Wieder Festnahme und Auffanglager. Die Behörden glaubten ihm im Sommer 2009 jedoch nicht, dass er noch nicht volljährig war, zumal sie den afghanisch- persischen Kalender nicht richtig lesen konnten. Also stellten sie ihm ein Dokument aus, das ihn als volljährig auswies. „Ich war müde und entmutigt“, sagt Mohammed. Er habe nicht zur Schule gehen dürfen, hatte kein Taschengeld, das Essen „war ungenießbar“. Aber die Menschen seien freundlich gewesen. Dort ließ sich Mohammed auch taufen, weil er sowohl in Griechenland als auch in Ungarn Hilfe von der Kirche bekommen hatte. Dennoch hielt ihn nichts in Ungarn. Mohammed machte seine erste Reise mit dem Zug nach Wien „ohne Fahrkarte“, wie er sagt. Die österreichische Polizei nahm ihn gleich wieder fest. Die Behörden übernahmen die Geburtsdaten von seiner ungarischen Flüchtlingskarte. „Ich habe ihnen gesagt, dass die falsch sind. Aber die haben mir nicht geglaubt.“ Und dann sollte er nach Ungarn abgeschoben werden.

Darauf hat Mohammed nicht mehr gewartet, sondern sich wieder in einen Zug gesetzt, unter einen Sitz, und ohne Fahrkarte reiste er nach Venedig. „Dort bin ich erst einmal spazieren gegangen.“ Und dann reiste er weiter nach Mailand, wieder ohne Fahrkarte. Und weiter nach Ventimilia an der Grenze zu Frankreich. Im Zug nach Paris fragte ihn ein Kontrolleur, ob er eine Fahrkarte habe. Mohammed verneinte. Oder einen Ausweis? Nein, auch keinen Ausweis. „Da ist der Schaffner weggegangen“, berichtet Mohammed immer noch erstaunt.

In Paris, sagt Mohammed, wäre er gerne geblieben. Aber ein Landsmann zeigte ihm Hunderte Afghanen, die dort unter Brücken schliefen. Nachdem er eine Nacht „unter dem Eiffelturm“ geschlafen hatte, nahm Mohammed einen Zug nach Amsterdam. Dort warf er alle Papiere weg und stellte sich der Polizei. Er landete in Schiphol in einem Abschiebegefängnis. Auch ein Anwalt sei ihm gestellt worden. „Es gab sogar eine Playstation“, erzählt Mohammed mit leuchtenden Augen. Zehn Monate verbrachte Mohammed in den Niederlanden. Er ging in die Schule, bekam wöchentlich 50 Euro Taschengeld. Doch nachdem klar war, dass er wieder nach Ungarn abgeschoben werden sollte, lief Mohammed wieder davon. Diesmal nach Amsterdam. Und dort traf er einen Afghanen aus seinem Dorf. Über ihn kam Monate später auch ein Kontakt zu seinen Eltern zustande, die es inzwischen in ein Flüchtlingslager in Eisenhüttenstadt geschafft hatten. Ihr zweiter Fluchtversuch endete für Mohammeds Schwester mit einer Heirat im Iran und für die Eltern auf einem Seelenverkäufer nach Griechenland. Auf der Überfahrt brannte das Schiff. „Die griechische Küstenwache hat uns gerettet“, berichtet Mohammeds Vater. In Griechenland bezahlte er einem Schlepper alles in allem 6500 Euro. Er verschaffte ihnen Plätze in zwei verschiedenen Flugzeugen nach Berlin. Dort wollte Mohammed nun auch hin. Vier Jahre lang hatte er seine Eltern nicht gesehen. Von seinem Ersparten kaufte sich Mohammed eine Fahrkarte nach Deutschland. Doch an der Grenze wurde er kontrolliert und verhaftet. 45 Tage saß er in Bühren an der niederländischen Grenze in Abschiebehaft. Und im Dezember 2010 war Mohammed wieder dort, wo er auf keinen Fall sein wollte: in Ungarn im Gefängnis. Nach fünf Monaten wurde er freigelassen, sein Vater schickte ihm etwas Geld, und Mohammed fuhr mit dem Zug über Österreich nach Deutschland. In Göttingen wurde er wieder festgenommen. Doch diesmal hatte er Glück. Ein Anwalt, bezahlt von einer Kirche, holte ihn aus dem Gefängnis, weil er noch immer minderjährig war. Inzwischen ist Mohammed mit seiner Familie in einem Asylbewerberlager in Brandenburg gelandet. Er geht in die Schule, wo er sich von latenten Rassisten angefeindet fühlt. Aber zumindest hat er seine Eltern wiedergefunden. Wann sein Asylverfahren entschieden wird und wie es für die Familie ausgehen wird, ist völlig offen. Nur eines weiß Mohammed: „Wenn ich einen Pass bekommen sollte, will ich noch einmal nach Paris fahren.“ Legal und als Tourist.

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