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Auf der Suche nach Schutz. Die Familien fliehen teilweise mit zehn Kindern in die Nachbarländer und hausen dann oft nur in einem kleinen Zimmer. Foto: Reuters

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Politik: Und bald kommt der Winter

Immer mehr Menschen fliehen aus Syrien – die UN rechnen mit 700 000 bis Ende des Jahres.

Abu Ali Khaled hat einen weißen Bart und ein weiches, gutmütiges Gesicht. Mehr als 20 Jahre war er Offizier bei der libanesischen Armee. Von der Veranda seines Hauses aus kann man bis hinüber nach Syrien sehen. Das letzte Stück in Richtung Grenze geht in seinem schweren Mercedes über Serpentinen durch die karge, grau und grün getupfte Felsenlandschaft. Ständig ist das Gewummer der Artillerie zu hören. Über die beschwerlichen, steinigen Wege kommen täglich neue Flüchtlinge, um dem nun schon 18 Monate dauernden Inferno in ihrer Heimat zu entkommen. Zuletzt waren binnen 24 Stunden nach Angaben von Aktivisten 305 Menschen in den Kämpfen gestorben – so viel wie noch nie seit Beginn des Aufstandes gegen Präsident Baschar al Assad. Und die wachsende Brutalität lässt auch die Zahl der Flüchtlinge wachsen.

Am Donnerstag schlug das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) Alarm. Bis zum Jahresende rechnen die Helfer jetzt mit 700 000 syrischen Flüchtlingen, die in den Nachbarländern Libanon, Jordanien, Türkei, Irak und Ägypten Unterschlupf brauchen. Die inoffizielle Zahl dürfte mindestens doppelt so hoch liegen. Drei Viertel der Geflohenen sind Frauen und Kinder. Im März hatte die UN-Prognose für das Jahresende bei 100 000 gelegen.

Nur Schleuser kennen die wenigen minenfreien Durchlässe an der Grenze und lassen sich ihr Wissen teuer bezahlen. 100 Dollar pro Person kostete zuletzt der Exit-Tarif. Inzwischen kümmert sich Abu Ali Khaled um 240 Familien und 140 Deserteure, die er in der Dorfschule und leer stehenden Rohbauten für Ferienhäuser untergebracht hat.

Noch nicht einmal ihre Vornamen wollen die Deserteure nennen. Einer von ihnen haust seit vier Wochen mit seinen zehn Kindern in einem Zimmer aus rohen Ziegelwänden. 31 Jahre lang diente er bei der syrischen Armee, zwei Monate vor seiner Pensionierung warf der 52-Jährige hin. Er nahm einen Tag Urlaub, packte seine Familie und ließ sich über die Grenze nach Libanon schleusen. Jetzt schlafen alle auf dünnen Schaumstoffmatten auf rohem Betonboden, ein Fenster ist mit Wolldecken verhangen. Ein Baby wurde kurz vor der Flucht geboren, seine Zwillingsschwester starb bereits, die überlebende Kleine ist ständig erkältet und hustet, sagt die Mutter.

Millionen obdachlose Syrer stehen vor ihrem ersten kalten und nassen Winter ohne Wohnung, ohne Heizung, meist auch ohne ausreichende Kleidung. „Uns läuft die Zeit davon“, sagen die Helfer, und das Geld geht ihnen aus. In den nächsten vier Wochen sollen alle Zeltlager in der Türkei, Jordanien und Irak „winterfest“ gemacht werden, mit Warmwasser-Stellen, Öfen sowie dickeren Planen. Allein Jordanien schätzt die nötigen Mittel auf 550 Millionen Euro. Der UNHCR bezifferte jetzt in einem globalen Hilferuf seinen Finanzbedarf bis Ende des Jahres auf knapp 400 Millionen Euro, von denen erst 110 Millionen Euro von der internationalen Gemeinschaft eingezahlt worden sind. Außenminister Guido Westerwelle brachte bei seinem letzten Besuch in Jordanien noch einmal zwei Millionen mit, so dass sich die deutsche Hilfe für Syrien-Flüchtlinge nun auf insgesamt 24 Millionen Euro beläuft. Am Mittwoch rief Westerwelle den UN-Sicherheitsrat zu einer „gemeinsamen Antwort“ auf, damit die Gewalt in Syrien beendet wird. Er forderte die Staatengemeinschaft auf, einen „Prozess des politischen Übergangs“ auf den Weg bringen.

Allerdings sind die Aussichten dafür weiterhin gering. Zwar soll sich die Arabische Liga nach dem Willen des Sicherheitsrates stärker in die Vermittlung des Syrienkonflikts einschalten. Dennoch fand der Sicherheitsrat erneut nicht zu einer einheitlichen Linie. Während sich die Mehrzahl der Mitglieder für eine politische Lösung ohne den syrischen Präsidenten Baschar al Assad aussprach, wird ein härteres Vorgehen gegen Assad immer noch von den Veto-Mächten Russland und China verhindert.

„Niemand ist hier sicher“, sagt Abu Ali Khaled. Auf libanesischer Seite operieren pro-syrische Kopfjäger, die entlaufene Soldaten suchen, um sie an das syrische Regime auszuliefern. Vor einigen Tagen entgingen drei Opfer in letzter Minute ihrem Schicksal, weil die Entführer in eine Patrouille der syrischen Armee gerieten. Die Flüchtlinge halten sich in den Häusern versteckt. Ihr Helfer Abu Ali Khaled verbringt den ganzen Tag damit, Lebensmittel zu organisieren und herbeizuschaffen. „Bald liegt hier Schnee. Jetzt versuche ich, Scheiben für die Häuser zu organisieren“, sagt er. „Doch wie ich das alles schaffen soll, weiß ich nicht.“

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