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"Und erlöse uns von allen Üblen" #33: Ein Freund der Literatur sattelt um

Der Mord am Rechtsnationalen Freypen ist Teil eines Komplotts. Es geht um Mord für eine gerechte Sache. Ein Fortsetzungsroman, Teil 33.

Was bisher geschah: Vier internationale Polizisten haben sich zum Ziel gesetzt, im Namen der Gerechtigkeit zu morden. Der deutsche Rechtsnationale war nur eines ihrer Opfer.

In 100 Teilen bis zur Bundestagswahl 2017 erscheint der Politkrimi "Und erlöse uns von allen Üblen" online als Fortsetzungsroman im Tagesspiegel. Hier Folge 33 vom 18. Juli.

Alain Retins Vorschlag, hin und wieder Gott zu spielen und bestimmte Figuren früher als von dem geplant direkt in der Hölle abzuliefern, war zwar ungeheuerlich. Kam aber gerade von ihm als Idee nicht so überraschend, wenn man seine ganz persönliche Geschichte kannte. Alain entzog sich jeder Norm, Alain hielt Verwirklichung von Utopien für den einzigen ihm gemäßen Lebensstil und damit für Fortschritt.

Während andere in seinem Alter ein berühmter Mittelstürmer werden wollten oder ein wilder Rockstar, träumte er schon als Junge davon, irgendwann an der Sorbonne Literatur und Geschichte zu lehren. Beide Fächer faszinierten ihn während seiner gesamten Schulzeit, und dass es die Sorbonne sein musste, stand für einen, der in Paris geboren und aufgewachsen war, außer Frage. Retin hat diesen Jugendtraum nie aufgegeben, im Laufe der Jahre nur den jeweiligen Verhältnissen und seinem wachsenden Alter angepasst.

Mit seinen Literaturkenntnissen bezauberte er regelmäßig junge Mädchen, die nicht auf Anhieb weiche Knie bekamen, wenn der kleingewachsene schwarzhaarige Alain einen Raum betrat. Er schrieb im Bedarfsfall auch Gedichte. Dass die von deutschen Dichtern geklaut waren, die er als einziger seines Semesters im Original lesen konnte, merkte nie eine von den Schönen, für die er sie angeblich verfasst hatte. Er achtete darauf, nur tote Poeten zu plündern und deren Werke für seine auszugeben und vor allem nur solche, die nicht ins Französische übersetzt waren. Alternative Strategien nannte er das, so etwas lernt man aus der Geschichte, und gern wies er darauf hin, dass Sex zwar an anderer Stelle stattfinde, aber im Kopf entstehe. Dennoch tat Retin auch viel für seine physische Kondition, joggte jeden Morgen fünf Kilometer, egal wie anstrengend die Nacht davor gewesen war, und an Wochenenden mussten es mindestens fünfzig Kilometer auf dem Fahrrad sein. Viele Frauen staunten, wenn sie ihn zum ersten Mal nackt sahen, was für einen gewaltigen Brustkorb er hatte.

Aber insgeheim liebte er nur nur eine, und die war für ihn unerreichbar. Seine Kommilitonen hätten ihn bei dem Geständnis ausgelacht, dass Kleopatra die Frau seiner Träume war. Den Film mit der damals schönsten Frau der Welt, und gemeint waren beide, Kleopatra in jener und Liz Taylor in ihrer Zeit, hatte er so oft gesehen, dass er die Dialoge auswendig kannte. Sogar seine Siamkatze nannte er viele Jahre später Kleo, aber die hätte auch auf Kleopatra nicht gehört. Abgesehen davon war die Katze ein Kater.

Nach dem achten Semester war Retins akademische Laufbahn beendet, weil er von einer besonderen Abteilung der Polizei engagiert wurde. Über Nacht. Wenn seine Freunde ihn fragten, warum denn einer aus einem Geschichtsseminar oder aus einer Shakespeare-Vorlesung geholt und ohne weitere Ausbildung direkt zum Inspektor ernannt wurde, das klang doch höchst unwahrscheinlich und wie von ihm gerade frei erfunden, stotterte er irgend etwas von Zufall und Glück und wechselte das Thema.

Die Wahrheit hätte zu angeberisch geklungen, war aber so simpel: Der Schwager seines Professors war bei der Sureté verantwortlich für Spezialisten jener Art, die man an Personalräten vorbei anstellte und in bestimmten Fällen vor allem an eigentlich zuständigen Dienststellen vorbei einsetzte. Sein Lehrer hatte ihm von diesem seltsamen Studen­ten Retin erzählt, der mit einem unwahrscheinlichen Gedächtnis ausgestattet war und voller Lust die kompliziertesten Codes entschlüsselte und wenn nötig, einfach so zum Spaß, auch erfand. Ihn zur französischen Variante des Bundeskriminalamtes zu locken, war deshalb verhältnismäßig einfach: Bei uns, hatte sein künftiger Chef versprochen, werden Sie für das bezahlt, was Sie am liebsten tun. Und lächelnd: Oder fast am liebsten. Langweilig wird es nie.

Und morgen lesen Sie: Vier Männer denken an Selbstjustiz.

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