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"Und erlöse uns von allen Üblen" #51: Die Ermittlerin wühlt in der Vergangenheit

Die Tatwaffe im Mordfall Freypen bleibt unauffindbar. Ein alter Mann ist auskunftsbereit. Ein Fortsetzungsroman, Teil 51.

Was bisher geschah: Alle Ermittlungsansätze im Mordfall Freypen führen bisher ins Leere. Polizistin Hornstein plant einen Besuch im Internat Salem.

In 100 Teilen bis zur Bundestagswahl 2017 erscheint der Politkrimi "Und erlöse uns von allen Üblen" online als Fortsetzungsroman im Tagesspiegel. Hier Folge 51 vom 5. August.

Susanne Hornstein hob ihre Pistole, zielte kurz und schoss. Bang, bang, bang. Mehr als ein Dutzend Mal. Dann drückte sie auf einen Knopf. Surrend kam die elektrisch gesteuerte Zielscheibe in einer Schiene auf sie zu. Das sah aus wie der Angriff eines Außerirdischen, denn die Pappkameraden, auf die im Schießstand angelegt wurde, waren zwar regungslose eindimensionale Körper, hatten aber ein realistisch gemaltes Gesicht. Immer mit eindeutig männlichen Zügen. Frauen galten hier unten im sogenannten Ballerraum VI erst recht als das schwache Geschlecht, und auf Frauen feuerte man nicht einmal im Training.

Alle ihre Kugeln hatten Einschläge zwischen die Augen angezeigt. Gezielte Todesschüsse nannten sie das in der Fachsprache, die wurden nur von den ganz besonderen Spezialisten der GSG 9 oder der Mobilen Einsatzkommandos geübt und waren denen nur in genau definierten Notfällen erlaubt. Viele Beamte des Bundeskriminalamtes besuchten ganz spezielle Kurse, um ihre Technik zu verbessern, und da man schlechterdings Todesschuss als Lernziel nicht ans Schwarze Brett des Amtes schreiben konnte, blieb der Kreis der Teilnehmer auf die be­schränkt, die persönlich gebeten wurden.

Kriminaldirektor Susanne Hornstein übrigens gehörte zu den Lehrern bei diesem Training, nicht zu den Schülern. Die einzige Frau unter Männern.

Jetzt, kurz vor Mitternacht, war sie allein auf der in Neonlicht getauchten Anlage. Sie prüfte ihre Ergebnisse, nahm die schallschluckenden Kopfhörer und die getönte Brille ab, sicherte ihre Dienstwaffe und ging zu einem Getränkeautomaten im Vorraum des Schießstandes. Steckte sich da erst eine Zigarette an und inhalierte tief. Du hast es wirklich weit gebracht, beglückwünschte sie sich zynisch. Deine Höhepunkte finden nachts auf dem Schießstand im Keller des Polizeipräsidiums statt und du brauchst außer einer Pappfigur nicht mal einen Partner dazu. Du bist wirklich eine emanzipierte Frau.

Im Schlamm unter den Brücken der abgelassenen Fleete hatten die Männer von der Stadtreinigung unter den wachsamen Augen einiger Kriminalbeamten nur das entdeckt, was beim alljährlich üblichen Entrümpeln sowieso gefunden worden wäre. Verrostete Fahrräder, ein paar Einkaufswagen von Supermärkten, aufgeweichte Schuhe, abgewetzte Dildos, bunten Plastikmüll. Kein Gewehr.

Georg Krucht war eine Enttäuschung nicht anzumerken, als er am anderen Morgen Susanne Hornstein davon berichtete, er hatte sich von der Suchaktion eh nichts versprochen. Sie auch nicht: "Wir haben es wie erwartet mit einem Profi zu tun, und der wirft nicht nachts die Tatwaffe über ein Geländer ins Wasser. Der weiß, dass wir an solchen Stellen zuerst suchen."

Bei der Hamburger Polizei war man dennoch mit den bisherigen Ergebnissen der Freypen-Ermittlungen zufrieden, denn bei der großen Ringfahndung waren einige Kunden ins Netz gegangen, die nichts mit dem Attentat zu tun hatten, aber schon lange wegen anderer Delikte gesucht worden waren. Die wurden jetzt verhört und anschließend ins Untersuchungsgefängnis gefahren. Solche Zufallstreffer waren bei polizeilichen Großaktionen normal. Wurden aber bei entsprechenden Pressekonferenzen als Erfolg intensiver Ermittlungen verkauft.

Krucht konnte die offensichtlich resignative Stimmung von Susanne Hornstein zwar nachvollziehen, doch schien ihm die übertrieben. Seit dem Mord waren nicht einmal drei Tage vergangen, kein Grund also nervös zu werden. Woher sollte er auch wissen, dass ihr Frust viel tiefer ging und nicht nur mit dem Fall Freypen zu tun hatte?

Als sie sich mit einem mürrischen "Bin übers Handy erreichbar" verabschiedete und zum Flughafen bringen ließ, blickte er nur kurz hoch und nickte ihr zu. Seltsame Frau, dachte er. Ob die so was wie ein Privatleben hat? Sie hätte ihm eine solche Frage zwar nie beantwortet, weil ihn das nun wirklich nichts anging, aber selbst wenn, wäre es eine kurze Antwort geworden: Nein.

In Salem war kein Lehrer mehr im Dienst, der Joachim Freypen und Jens-Peter Schwarzkoff in den 1970er Jahren noch als Schüler erlebt hätte. Der Direktor zeigte sich wenig beeindruckt von Susanne Hornsteins Dienstausweis, denn wer das berühmteste Internat der Republik leitet, hat die besten Verbindungen in die höchsten Kreise und ein Kriminaldirektor vom BKA gehört nicht zu denen. Nur die ganz Reichen konnten es sich leisten, ihre Nachkommen so teuer zu von sich zu geben. Wie die Macht schmeckt und wie man die Mächtigen von den Ohnmächtigen unterscheiden kann, hat der Salem-Chef im Laufe der Zeit gelernt.

Er ordnete deshalb Susanne Hornstein unter die Ohnmächtigen ein. Mit entsprechender Arroganz fragte er sie denn auch, was sie sich denn davon verspreche, in der Vergangenheit zu graben, der bedauerliche Mord an dem ehemaligen Schüler Freypen sei doch wohl jetzt passiert und nicht vor vierzig Jahren. Das Attentat habe nun wirklich nichts mit seinem Internat zu tun.

Die Kriminaldirektorin, die absichtlich ohne Voranmeldung an den Bodensee gekommen war, versuchte gar nicht erst, sich zu verstellen und höflich zu sein. "Falls Sie mir nicht helfen wollen, wird es sich wohl nicht vermeiden lassen, dass Ihr Institut", und das Wort Institut spuckte sie geradezu angewidert aus, als würde es ihr physische Schmerzen bereiten, "im Zusammenhang mit dem Attentat und dieser neuen Theorie eines möglichen Nazihintergrunds genannt wird. Sie haben sicher davon gelesen. Es ist doch vorstellbar, dass die Samen für Freypens rechtsradikale Ideen schon in der Schulzeit ausgelegt wurden. Durch Lehrer zum Beispiel."

Dabei erhob sie sich halb.

Zehn Minuten später hatte sie die Adresse des ehemaligen Tutors von Freypen und Schwarzkoff. Der war inzwischen fünfundsiebzig Jahre alt, im Ruhestand und deshalb dankbar für jede Abwechslung . "Kommen Sie doch gleich bei mir vorbei", hatte er am Telefon gesagt, "ich bin ein alter Mann, und Sie haben sicher viel weniger Zeit als ich."

Und morgen lesen Sie: Die Ermittlerin stößt auf eine Spur.

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