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"Und erlöse uns von allen Üblen" #52: Die Kriminalistin ist verstört

Ein alter Lehrer gibt der Ermittlerin einen wichtigen Hinweis. Ein Name überrascht sie. Ein Fortsetzungsroman, Teil 52.

Was bisher geschah: Chefermittlerin hat eine Spur zum Internat Salem gefunden. Vom Gespräch mit einem alten Lehrer erhofft sie sich Erkenntnisse.

In 100 Teilen bis zur Bundestagswahl 2017 erscheint der Politkrimi "Und erlöse uns von allen Üblen" online als Fortsetzungsroman im Tagesspiegel. Hier Folge 52 vom 6. August.

Susanne Hornstein ist nach Überlingen gefahren, wo Dr. Martin Gundlach seit seiner Pensionierung lebte. Nun sitzen sie in in seinem Garten in einer windgeschützten Laube, der See ist in der flirrenden warmen Herbstluft zu riechen, aber nicht zu sehen, und blättern in alten Fotoalben. "Hier schauen Sie, da sind die beiden, Jens-Peter und Joachim, beim Schulfest 1974. Gott, wie lange ist das schon her. Die waren unzertrennlich bis zum Abitur, haben sich manchmal sogar die Mädchen geteilt", kichert er.

Dabei wird er plötzlich ganz ernst, als sei ihm gerade etwas nicht so Komisches eingefallen und sein Blick verliert sich in der Vergangenheit. Susanne Hornstein holt ihn nicht in die Gegenwart zurück. Sie wartet, bis er wieder anfängt zu erzählen von damals. In der Kunst, Menschen zum Reden zu bringen, ist sie mindestens ebenso geschickt wie Andrea Hofwieser.

"Eigentlich waren sie immer zu dritt", sagt Gundlach plötzlich und zeigt auf ein Foto, das drei Jungs in verschmutzten Fußballtrikots zeigt, "der Bernhard Lawerenz gehörte auch zu ihnen."

Er merkt nicht, wie die blonde Frau bei der Erwähnung des Namens erstarrt und sogar vergisst, ihre Zigarette anzuzünden, die sie gerade zum Mund geführt hat. Das kann nicht der sein, denkt sie, nicht der Bernhard Lawerenz. Der kann doch nicht den meinen, den ich meine. Aber sie ahnt, dass Gundlach tatsächlich von dem Bernhard Lawerenz spricht, den sie kennt. Passt von der Größe, passt vom Alter. Hat der nicht sogar mal erzählt, dass er den größten Teil seiner Schulzeit in einem Internat verbracht hat?

Ministerialdirektor Bernhard Lawerenz ist ihr Vorgesetzter, Leiter der Abteilung Rechtsextremismus des Bundeskriminalamtes. Witwer mit altmodisch höflichen Umgangsformen, ein väterlicher Wegbegleiter ihrer Karriere, der sich im BKA geradezu rührend um die damals junge Frau gekümmert hat. Er hatte Susanne Hornstein unter all den Bewerbungen für seine ganz besondere Abteilung ausgewählt und er hatte ihren Aufstieg in den jetzigen Rang eines Kriminaldirektors durchgesetzt. Weil sie es verdiente und weil sie in allen Prüfungen besser abschnitt als ihre männlichen Konkurrenten.

Bernhard Lawerenz, den sie nicht nur als Fachmann respektierte, sondern geradezu verehrte. Der hatte kein Wort davon gesagt, wie gut er den lebenden Joachim kannte, als er sie zum toten Freypen nach Hamburg schickte. Oder seinen Schulfreund Jens-Peter Schwarzkoff erwähnt, als sie ihm von dem Treffen mit dem Verleger und dessen Alibi berichtet hat. Ein Zufall?

Susanne Hornstein glaubt nicht an Zufälle. Nur an Logik. Sie kann sogar den Zusammenhang zwischen ihrem beruflichem Aufstieg und ihrer privaten Trümmerlandschaft logisch erklären. Das hätte ihr allerdings jeder sagen können, dafür brauchte es keinen Mensa-reifen Intelligenzquotienten.

"Ist Ihnen irgend etwas aus den Jahren damals in Erinnerung geblieben, irgend etwas, was bei den drei Schülern aus dem üblichen Rahmen gefallen ist? Ist irgend etwas im Internat passiert, als sie da waren? Sind die zum Beispiel politisch aktiv gewesen?", fragt sie gespannt und lässt sich dabei nichts anmerken von dem, was sie gerade beschäftigt.

Der alte Mann spürt aber am Ton ihrer Stimme, dass sie nichts hören will von Mogeleien bei Klassenarbeiten und typischen Jungenstreichen aus alten Zeiten.

"Im Leben", sagt er leise, "im Leben kommen die Guten um und die Bösen davon. Nur in erfundenen Geschichten, in Büchern, ist es manchmal umgekehrt."

Dann erzählt er ihr, was damals im Sommer 1974 passiert ist, und sie unterbricht ihn dabei nicht. Als sie sich danach von ihm verabschiedet und in ihren Leihwagen steigt, humpelt er noch einmal vom Gartentor ans Auto und reicht ihr durchs Seitenfenster ein schmales Päckchen. "Können Sie behalten, ich brauche es bestimmt nicht mehr." Im Rückspiegel sieht sie, wie er ihr nachschaut.

Susanne Hornstein ist am Airport in Zürich von dem Gespräch mit dem alten Lehrer noch so verstört, dass sie vergaß, ihren Pass zu zeigen und einfach durch die Schleuse ging. Der Beamte verzog keine Miene, als sie sich entschuldigte und ihm ihren Ausweis gab.

Sie buchte ihren Flug um und nahm die Lufthansa-Maschine um 19.20 Uhr nach Köln-Bonn. Es machte ihr nichts aus, dass es hinten in der Holzklasse nur noch trockene Käsebrötchen und keine Zeitungen mehr gab. Die wichtigste Nachricht in Sachen Freypen, die eigentlich keine Nachricht war, sondern - ja was? - eine geschickt inszenierte Täuschung der Öffentlichkeit, hatte sie schon in Hamburg gelesen. Und danach mit Lawerenz telefoniert. Mit Lawerenz.

Sie lachte bitter auf, was ihren Sitznachbarn verwunderte, denn ihre Augen hatte sie geschlossen, als würde sie schlafen. Vielleicht hatte sie einen lustigen Traum gehabt? Einerseits war sie fast euphorisch, denn es gab die erste Spur, endlich so etwas wie ein mögliches Motiv für den Mord. Andererseits war sie deprimiert, denn sie wusste auch, wer die Rolle von Bernhard Lawerenz in dieser Geschichte untersuchen musste. Wer schon, sie natürlich.

Die Nacht verbrachte Susanne Hornstein in ihrem Elternhaus am Rhein, redete vor dem Schlafengehen bei einer Kanne Tee noch lange mit ihrer Mutter, aber nicht über den aktuellen Fall, sondern über ihren Vater und Beispiele seiner unbeugsamen Sturheit vor allem dann, wenn er das einzige Kind, seine geliebte Tochter, ungerecht behandelt glaubte. Beide lachten in der gemeinsamen Erinnerung an ihn und das hatte etwas Befreiendes.

Zwischendurch telefonierte sie mit ihren Kollegen in Hamburg. Nichts Neues. Routineuntersuchungen, die üblichen Anrufe von Verrückten angesichts der Belohnung von einer Million Euro. Andrea Hofwieser? Wurde überwacht, bisher aber ohne Ergebnis. Sie gab ihnen den Auftrag, alles über Schwarzkoff herauszubekommen, wirklich alles, aber so unauffällig, dass er es nicht merken würde. Also bloß nicht mit seinen Freunden sprechen.

"Ja, ich hab vielleicht was", sagte sie auf eine entsprechende Nachfrage, "bis dann."

Und morgen lesen Sie: Der Innenminister gibt der Ermittlerin zwanzig Minuten.

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