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Hamburg ist die Kulisse für Michael Jürgs Roman.

© Illustration: Anna Krauß

"Und erlöse uns von allen Üblen" #6: Der Attentäter hat den NAPD-Chef im Visier

Vier Männer haben die Ermordung des Chefs der Nationalen Alternative beschlossen. Joachim Freypen soll vor einem geplanten großen Auftritt in Hamburg erschossen werden. Ein Fortsetzungsroman, Teil 6.

Was bisher geschah: Joachim Freypen, Chef der Nationalen Alternative, sitzt in der Hamburger Parteizentrale. Sein Mörder wartet gegenüber. Das Attentat auf Freypen haben vier Männer geplant.

In 100 Teilen bis zur Bundestagswahl 2017 erscheint der Politkrimi "Und erlöse uns von allen Üblen" online als Fortsetzungsroman im Tagesspiegel. Hier Folge 6 vom 21. Juni.

Der auf Belle Ile mit dem Mord beauftragte Deutsche holt jetzt in der dunklen Wohnung in Hamburg sein Handy aus einer Hosentasche und gibt schnell eine Nummer ein. Behält dabei aber stets das Fenster gegenüber im Auge. "Ich bin jetzt drin. Bei dir alles okay?"

Er lauscht auf die Stimme am anderen Ende.

"Gut so. Ich brauche etwa eine halbe Stunde, vielleicht auch länger. Falls sie früher rauskommt, schick mir eine SMS. Dann hätte ich noch etwa fünfzehn Minuten. Das müsste reichen, um zu verschwinden."

Er unterbricht die Verbindung und geht zurück zum Eingangsflur. Inzwischen hat er sich an die Dunkelheit gewöhnt, die Brille achtlos in dem breiten Gürtel verstaut, den er um die Taille trägt. Aus der Sporttasche nimmt er eine Art gerolltes Handtuch, das wie eine dicke Wurst aussieht, und legt es sorgfältig auf den Teppichboden. Das darin eingewickelte Gewehr ist bereits zusammengeschraubt, er prüft kurz, ob der Schalldämpfer auch wirklich festsitzt, und lässt dann mit einem leisen Klick das Zielfernrohr einrasten, das er, wie in Bangor von dem Holländer prophezeit, in der Tat braucht. Dabei passt er sehr genau auf, dass die Waffe nicht direkt den Boden berührt und dort eventuell Spuren hinterlässt.  

Zurück am Fenster öffnet er langsam den rechten großen Flügel, der nach innen aufgeht, alles mit einer Hand, um das Gewehr nicht absetzen zu müssen. Frische trockene Luft strömt herein und die nächtlichen Geräusche der Stadt sind zu hören. Dann kniet er sich vorsichtig hin, breitet den Stoff über die Fensterbank, legt sein Handy neben sich auf den Boden und blickt prüfend durch das Zielfernrohr. Schwenkt ein wenig nach links, bis er den breiten Schädel von Joachim Freypen genau im Leuchtpunktvisier hat. Steht wieder auf und lehnt die Waffe so ans Fenster, dass ihr stählerner Lauf erneut nur das Handtuch berührt. Ausgerechnet ich, denkt er, ausgerechnet ich, der früher eine Waffe nicht mal hat anfassen wollen. Aber das war lange her.

Drüben schaltet Freypen noch vor dem Wetterbericht, in dem eine Fortsetzung milder Temperaturen bei weiterhin klarem Himmel angekündigt wird, den Fernsehapparat aus. Wetter interessiert ihn nicht, weil er nichts daran ändern kann. Nichts ändern zu können, hasst er. Er drückt einen Knopf unter seiner Schreibtischplatte, draußen leuchtet über der Tür eine kleine rote Lampe auf. Seine Leibwächter, die im Vorzimmer warten und sich mit der Fernbedienung durch die Programme zappen oder auf ihren Tablets spielen, sollen wissen, dass sie ihn von nun an nicht mehr stören dürfen. Dann greift er zum Hörer, blickt vorher kurz auf seine Armbanduhr. Joachim Freypen hat noch etwa fünfzig Minuten zu leben, aber das ahnt er nicht.

Auch der Mann, der ihn erschießen wird, telefoniert gerade. Er hat dafür nur auf die Wahlwiederholungstaste gedrückt. Sein Gesprächspartner sitzt an der in einem schwarzen Mercedes Coupé mit französischem Kennzeichen in unmittelbarer Nähe des Anglo-German-Clubs an der Alster. Unter den vielen Chauffeuren mit dunklen Limousinen, die hier auf ihre Chefs warten, Zeitung lesen oder in Gruppen rauchend herumstehen, fällt er nicht auf. Der Empfang in der Villa gegenüber hat mit einer Lesung von Ulrich Wickert aus seinem neuen Thriller "Das Schloss in der Normandie" begonnen. Nun werden die dort üblichen kleinen Quiches Lorraines aus der Mikrowelle und gesponserter Weißwein gereicht. Die großen Glastüren zur Terrasse sind geöffnet. Rauchschwaden steigen in die Luft.

"Ich habe gerade gehört, wie sie geklatscht haben. Also beginnt jetzt der gemütlichere Teil. Aber falls es langweilig wird, kann das schnell vorbei sein. Besser, du beeilst dich. Oder gibt es Probleme?"

"Nein."

Für das geplante Attentat auf Joachim Freypen hatte sich das Haus angeboten, in dem er jetzt am dunklen Fenster steht. Die anderen Häuser mit freier Sicht auf die Zentrale der Nationalen waren entweder reine Bürogebäude und abends von Putzkolonnen bevölkert, kamen also nicht in Frage, weil man jederzeit gestört werden könnte. Oder sie waren zu weit entfernt und nicht hoch genug für einen gezielten Schuss auf eine solche Entfernung.

Gleiche Ebene musste es bei dieser Mord-Methode sein, allenfalls ein ganz kleiner Schusswinkel ist denkbar, aber nur von oben nach unten. Denn Freypens Schreibtisch stand nicht direkt am Fenster, und darauf zu hoffen, dass er sich da mal als unfreiwillige Zielscheibe hinstellte, also auch von unten zu treffen sein würde, war viel zu unsicher. Nach solchen logistischen Einschränkungen blieben genau vier Wohnungen im obersten Stockwerk, die ein Fenster Richtung Parkdeck hatten, als Standort für den Anschlag übrig.

Der Mörder hatte bei einem beruflichen Routinetermin in Hamburg die Örtlichkeiten genau geprüft, auch sein Auto im Parkhaus abgestellt und sich dort umgeschaut. Als er vor knapp zwei Monaten sein Plädoyer am Pool hielt, hatte er für sich bereits entschieden, den Mord nur auf diese Art und nur von dieser Stelle aus und nur an einem Samstag zu begehen. Samstag lieber als Dienstag, weil die Möglichkeiten, schnell zu verschwinden, an einem Wochenende naturgemäß größer waren. Und der heutige Tag der Einheit war zudem ideal für Mord, weil viele Hamburger bereits zu einem Kurzurlaub nach Sylt gefahren waren. Ein Attentat zu versuchen bei irgendeiner Veranstaltung der Partei schien ihm zu riskant. Der Politiker war immer gut bewacht und abgeschirmt. Vor allem hätte eine Schütze keine Chance zur Flucht gehabt.

Seit überall angeschlagen war, dass Joachim Freypen morgen auf der Moorweide eine Veranstaltung plante, stand auch der Abend fest, an dem er sterben sollte. Der Vorabend. Denn seit der Ankündigung war sicher, dass er in der Stadt sein würde und nicht etwa im letzten Moment einen anderen Termin vorzog.

Freypen wusste sehr genau, dass einst auf der Moorweide die Juden der Stadt zusammengetrieben wurden, bevor sie in die Konzentrationslager verfrachtet wurden. Das störte ihn nicht. Für die Vergangenheit, pflegte er zu sagen, hat Deutschland lange genug gebüßt. Nun muss endlich Schluss damit sein.

Der Platz ist vom Senat erst nach einem Verwaltungsgerichtsurteil freigegeben worden. Das ursprüngliche Verbot hatten die Richter aufgehoben, weil die Partei ja schließlich nicht verboten war. Immerhin hatte es das juristische Hickhack unmöglich gemacht, den ursprünglichen Tag, den 3. Oktober, einzuhalten. Was Freypen nicht störte: An dem Tag, erklärte er, reden die Altparteien, wir haben mit denen nichts zu tun.

Und morgen lesen Sie: Der Mörder lauert in der Wohnung der Reporterin Andrea Hofwieser. Die ist unterwegs zu einem Empfang - und völlig ahnungslos.

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