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"Und erlöse uns von allen Üblen" #69: Ein exquisiter Nachtisch

Die Polizeireporterin bekommt Zweifel. Der Freypen-Mörder bleibt souverän. Ein Fortsetzungsroman, Teil 69.

Was bisher geschah: Polizeireporterin Hofwieser und der Freypen-Mörder spielen ein riskantes Spiel. Leibwächter Mulder ist sicher, den Mörder gefunden zu haben.

In 100 Teilen bis zur Bundestagswahl 2017 erscheint der Politkrimi "Und erlöse uns von allen Üblen" online als Fortsetzungsroman im Tagesspiegel. Hier Folge 69 vom 23. August.

Andrea Hofwieser öffnet auf dem langen Flur von Zartmanns Wohnung die falsche Tür, nicht die zum Badezimmer, wo sie sich nach dem tränenreichen Lachanfall das Gesicht wieder richten will. Merkt das aber erst, als sie schon den Lichtschalter angeknipst hat. Sie ist in eine Art begehbare Kleiderkammer geraten, in der Anzüge und Jacketts und Hosen hängen, am Boden stehen viele Schuhe. Sieht alles teuer aus.

Die Hand hat sie bereits wieder an der Türklinke, um zurückzugehen auf den Flur, da bleibt ihr Blick hängen an einer grünen Sporttasche, die halb unter ein Regal geschoben ist. Eine grüne Leinentasche. Sie weiß sofort, wo sie schon einmal eine solche Tasche gesehen hat. Vorsichtig bückt sie sich und zieht die ein bisschen näher zu sich her. In der Tasche liegt ein schwarzer Jogginganzug aus glänzender Fallschirmseide. Etwas so Geschmackloses passt eigentlich nicht zu dem Besitzer der Wohnung. Sie hebt mit spitzen Fingern den Stoff hoch. Das Oberteil endet in einer Kapuze. Sie riecht daran. Der Geruch erinnert sie an einen anderen Geruch.

"Wo bleiben Sie denn?", hört sie die Stimme Zartmanns und als sie sich umdreht, immer noch das Ende der Kapuze in der Hand, steht er genau vor ihr. Blickt sie erstaunt an, wirkt aber keinesfalls erschrocken: "Wollen Sie sich umziehen?", fragt er spöttisch und nimmt ihr den Jogginganzug ab. Hält ihn vor sie hin, als wollte er prüfen, ob ihr der passt: "Nein, die Farbe steht Ihnen nicht. Ist außerdem nicht Ihre Größe und viel zu hässlich, möchte wissen, wer den hier vergessen hat,", sagt er dann und lässt den Stoff achtlos auf den Boden fallen. Schaut sie dabei aber unentwegt an und verzieht keine Miene.

In seiner Personalakte hätte man die Beurteilung eines Psychologen finden können, der Zartmann nach dem Wechsel zu EUROPOL testete, und da war zu lesen, dass zu seinen hervorstechenden Eigenschaften eine fast übermenschlich zu nennende Selbstbeherrschung gehörte. Dass er deshalb in Stresssituationen , in denen andere zusammenbrechen, erst richtig in Form komme. "Wollte ich schon lange auf den Müll werfen", fügt er hinzu, was tatsächlich stimmt und er auch längst hätte tun sollen. Aber er hat nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet Andrea Hofwieser, die einzige, die ihn außer Alain in diesem Aufzug gesehen hat, und ausgerechnet in seiner Wohnung in Den Haag, das Kleidungsstück entdeckt. Er beschimpft sich als blutigen Anfänger, aber davon dringt nichts an die Oberfläche. Ich habe dich gewarnt, Lionel, sagt der andere Zartmann, du wolltest ja nicht auf mich hören. Du wolltest diese Frau ja unbedingt sehen. Jetzt sieh zu, wie du sie wieder los wirst.

Sie sagt gar nichts. Hält aber seinen Blick fest wie vor einer Woche in der Tiefgarage. Ist sich dabei ganz sicher, dass es dieselben grünen Augen sind. Die Augen. Die Kapuze. Der Geruch. Kein Zweifel. Aber der Bart? Denk nach, befiehlt sie sich, denk ganz ruhig nach. Kennt man doch aus jedem Krimi, einen falschen Bart. Kein Wunder, dass er dich nicht angerufen hat. Er ist ein Mörder. Kein normaler Mörder. Ein besonderer Mörder. Der von Freypen. Der Mörder, der mich gerettet hat. Mein Mörder sozusagen, mein ganz persönlicher Mörder. Und jetzt? Einfach so tun, als ob nichts ist, als ob ich mich nur in der Tür geirrt habe, weiter nichts ? Ob er mich überhaupt noch gehen lässt? "Kommen Sie", sagt er, "ich habe eine neue Flasche Wein aufgemacht. Sie haben sicher auch noch ein paar Fragen an mich."

Grinst dabei so frech, dass er zehn Jahre jünger aussieht. Sofort ist Andrea Hofwieser wieder unsicher. Bildet sie sich vielleicht doch alles nur ein? Welches Motiv sollte ausgerechnet ein hoher Polizeibeamter haben, einen Rechtsradikalen umzubringen? Da fällt ihr wieder der Aufsatz ein. Da steht doch alles drin, wenn sie nach einem Motiv sucht. Auch noch von ihm selbst verfasst. Aber kann einer so kühl reagieren, der befürchten muss, gerade als Mörder enttarnt worden zu sein? Eigentlich unmöglich. Sie spürt einen Schauder auf ihrer Haut. Fährt sich mit der Hand über die Stirn und kneift sich unauffällig in die Wange. Was der kann, überzeugt sie sich selbst, kann ich schon lange. Das Spiel spiele ich mit. Sie greift an, und nicht einen Moment lang hat sie das Gefühl, etwa Angst vor ihm haben zu müssen. Selbst dann nicht, falls er wirklich der Mann ist, für den sie ihn gerade hielt. Oder hält?

"Und ob ich noch ein paar Fragen habe. Beispielsweise würde ich gerne wissen, wo Sie am vergangenen Wochenende waren. Gerade hatte ich nämlich das Gefühl, Sie doch schon mal getroffen zu haben, in Hamburg zum Beispiel." Sie ahnt es also, stellt Zartmann kühl fest, aber das beunruhigt ihn seltsamerweise überhaupt nicht. Sie glaubt es zu wissen, aber sie hat keine Beweise. Und selbst wenn sie welche hätte, würde sie ihn nicht verraten. Spinnst du?, weist er sich zurecht. Warum sollte sie mich nicht verraten? Ist doch eine wahnsinnige Geschichte für sie. Sie ist Journalistin und auch noch auf Verbrechen spezialisiert. Also, warum sollte sie dich nicht verraten? Warum sollte Andrea Hofwieser schweigen? Weil sie sich nicht lächerlich machen will, weil ihre Vermutung so absurd klingt - ein hoher Kripobeamter als Attentäter? Das wird keiner ernst nehmen. Wirklich nicht? Auch Susanne Hornstein nicht?

Dabei muss er unvermittelt lachen, weil ihm einfällt, dass ihn die Kollegin gebeten hat, alles Verdächtige zu notieren, das ihm an Andrea Hofwieser während ihres Besuches auffällt. Hätte wohl besser Andrea bitten sollen, sich alles Verdächtige aufzuschreiben, was ihr an ihm auffällt. Er lacht noch einmal, und Andrea hat das Gefühl, er lache sie aus. Ist plötzlich wieder ganz sicher, dass sie dabei ist, sich lächerlich zu machen. Ich muss irgendetwas unternehmen, denkt sie, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Im Moment ist er schon wieder der Stärkere. Das scheint auch Zartmann zu wissen. Solche Spiele liebt er. Schaltet sofort um auf eine andere Taktik.

"Vergangenes Wochenende? Warten Sie, ach ja, da war ich mit einem Freund auf dem Golfplatz und dann abends in einem guten Restaurant. Der Koch war was so gut wie ich heute Abend." Dabei grinst er frech, nimmt fast behutsam ihren Ellbogen und bewegt sich mit ihr in Richtung Wohnraum. Redet dabei weiter in einem unverbindlichen Plauderton: "Nein, ich fürchte, wir haben uns bislang noch nie getroffen. Leider." Aber so schnell ist sie nicht zu schlagen, obwohl sie das Wörtchen leider nicht überhört hat.

"Ich meine auch nicht, auf einer Party getroffen. Eher zum Beispiel, sagen wir mal, na, in einer Tiefgarage?" Sie bleibt abrupt stehen, und dreht sich fast triumphierend zu ihm um. Er hält ihrem Blick stand.

"Ich weiß zwar nicht, wie Sie auf eine Tiefgarage kommen, aber vielleicht bin ich auch schon zu alt, um das zu verstehen. Ist das ein Synonym für irgendetwas? Ein Spiel? Ein Rätsel? Müsste ich jetzt die richtige Antwort wissen?" Versucht wieder, sie ein Stück zu bewegen, aber sie hält dem Druck stand. Sein Gesicht ist nahe dem ihrem. Es kommt ihr eine ganz andere Idee, wie sie ihn besiegen könnte. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, tastet sie mit ihrer rechten Hand auf ihren Rücken, zieht am Reißverschluss und lässt ihr Kleid auf den Boden sinken. Sie trägt keinen BH: "Ob es die richtige Antwort ist, weiß ich noch nicht. Versuchen Sie es doch mal", antwortet sie herausfordernd. Nun fühlt sie sich wieder als die Stärkere.

Aber dieses Gefühl hält auch nicht lange vor. Denn plötzlich denkt sie nicht mehr an Mord und nicht mehr an Schwarzkoff und nicht mehr an ihr Buch und nicht mehr an irgendwelche Tiefgaragen und vergisst sogar, warum sie ihr Kleid ursprünglich eigentlich hat fallen lassen. Aus Berechnung. Um nach ihren Regeln zu spielen, nicht nach seinen. Das Spiel, das sie jetzt in seinem Schlafzimmer spielen, ist zwar ein uraltes Spiel , aber sie spielen es unter Gleichen und es gelten keine Regeln.

"Was für ein Nachtisch", murmelt Lionel nach einer Ewigkeit, die nur denen, die unten vor dem Haus im verrauchten Auto sitzen und die Wohnung beobachten, wie eine knappe Stunde vorgekommen ist und er küsst seinen seltsamen Gast vorsichtig auf die fast durchsichtigen Brustwarzen. Dann schaut er halb aufgestützt auf seine weggeworfenen Kleidungsstücke, die wie bei einer Schnitzeljagd den Weg zum Bett markiert haben und am Boden verstreut liegen: "Ich glaube, ich nehme noch eine Portion", verkündet er leise, als er sich wieder aufs Bett zurückfallen lässt. Auch sie hat offensichtlich noch Hunger.

"Warum hast du eigentlich gezögert, mich zu retten, du weißt schon, letzte Woche, als sich dieses Schwein über mich hermachte?", fragt Andrea mit unschuldiger Stimme nach einer weiteren Ewigkeit und krault ihn dabei zärtlich an seinem linken Ohr. Selbst jetzt tappt Lionel Zartmann nicht in die Falle: "Ich weiß zwar nicht, wovon du sprichst, hat das mit dem Rätsel der Tiefgarage zu tun? War doch Tiefgarage oder? Aber ich würde dich immer retten, egal wo und egal wer es ist, der über dich herfällt. Selbst wenn es King Kong wäre. Denn nur ich darf über dich herfallen", erklärt er lachend und beißt sie in den Bauchnabel, um ihrem Blick auszuweichen. Sie ist immer noch nicht überzeugt, dass ich auf keinen Fall ihr Mörder bin, sondern nur ein zufälliger Liebhaber, denkt Zartmann, und bewundert dabei, sozusagen wertfrei, ihre Taktik.

Die ist zwar nicht neu, genauso uralt wie das Spiel, das sie gerade trieben - das Mata-Hari-Spiel heißt es in einschlägigen Fachkreisen - aber immer wieder erfolgreich. Viele Staatsgeheimnisse endeten in Bettgeflüster. Die professionelle Anerkennung für den Zug des Gegners, auch wenn der nackt unter ihm liegt, es ist plötzlich wieder ein Gegner, verdrängt sofort diesen Anflug eines ungewohnten Gefühls, den er kurz zuvor hatte. Eine Ahnung, dass diese ungenierte Leidenschaft gerade mehr als nur ein exquisiter Nachtisch gewesen sein könnte, an dessen Geschmack man sich morgen schon kaum erinnern würde.

Für Andrea Hofwieser hat Sex tatsächlich etwa die Bedeutung von Essen. Manchmal wird gefastet, manchmal gibt es Fastfood, manchmal gutbürgerlichen Eintopf, manchmal ist das Servierte so gut, da erinnert man sich noch Jahre später an wundervolle kulinarische Höhepunkte. So betrachtet wird sie diese Nacht nicht vergessen. Sie steht auf und er blickt sie fragend an, die Arme unter dem Kopf verschränkt: "Sag bitte nicht, dass du in dein Hotel willst. Stell dir einfach vor, wie langweilig es da ist. Und ich bin beim Frühstück mindestens so gut wie beim Hauptgang heute Abend."

Vor ein paar Stunden, vor diesen Ewigkeiten, hätte Andrea Hofwieser über einen solchen Satz nicht mal nachgedacht. Männergeschwätz eben. Die meisten fragten post coitum, wie sie denn gewesen sind. Waren tief beleidigt, wenn sie wie beim Eiskunstlauf antwortete fünf Komma null oder fünf Komma eins, selten fünf Komma zwei, und die Kerle dann rauswarf. Lionel aber schaut sie einfach nur an, sie spürt, wie er ihren nackten Körper mit seinen Augen abtastet, also wolle er sich jede Einzelheit einprägen, um sich für immer an sie zu erinnern. Sie erwidert diesen Blick, ebenso langsam und genau wie er, und grinst gar nicht mal spöttisch, eher interessiert, als er sich langsam bewegt. Eigentlich hat er recht, welch ein Aufwand, sich jetzt anzuziehen und für ein paar Stunden in einem kalten Bett in einem kalten Hotel zu schlafen. Das Spiel ist noch nicht zu Ende, morgen ist alles wieder vergessen, nicht wahr? und was soll ich jetzt im Hotel. Sie legt sich wieder neben ihn ins Bett, hat genügend Platz, aber rückt nahe an ihn heran. Ich will einfach noch mehr aus ihm herausholen, macht sie sich selbst vor, und irgendwie stimmt das auch, so oder so. "Was wollen Sie noch von mir wissen, Frau Hofwieser?", fragt Lionel Zartmann und seine Stimme klingt nicht schläfrig, "was kann ich noch für Sie tun?"

Sie sagt es ihm.

Und morgen lesen Sie: Mulders Spürhunde fliegen auf.

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