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Politik: Und es gibt doch eine Chance (Leitartikel)

Es ist ein gesamtdeutsches Ritual. Alle vier Wochen wieder benennt die Bundesanstalt für Arbeit die Zahl der Menschen, die keinen Arbeitsplatz haben.

Von Antje Sirleschtov

Es ist ein gesamtdeutsches Ritual. Alle vier Wochen wieder benennt die Bundesanstalt für Arbeit die Zahl der Menschen, die keinen Arbeitsplatz haben. Und alle vier Wochen wieder beschleicht Deutschland die gleiche böse Ahnung: Der Osten wird den Anschluss niemals schaffen. Zu sichtbar sind auch im zehnten Jahr nach dem Ende des Sozialismus die Zeichen der wirtschaftlichen Stagnation. Zu mager sind die Hinweise auf einen Aufschwung. Noch immer sind mehr als eine Million Menschen von Rostock bis Suhl ohne Chance, ihren Lebensunterhalt mit eigener Arbeit zu verdienen. Noch immer gibt es viel zu wenig Unternehmen, die einen Sinn darin sehen, sich in den neuen Bundesländern anzusiedeln. Auch in diesem Jahr werden die Milliardenbeträge, die aus deutschen und europäischen Fördertöpfen fließen, die neuen Bundesländer dem Westen nicht näher bringen. Werden all jene Recht behalten, die sich schon vor langer Zeit darin einig waren, dass es egal sei, wie viel Geld man in das Beitrittsgebiet pumpt und wie viele Fachleute zur Aufbauarbeit dorthin gehen? Dann bliebe der Osten für immer ein unterentwickelter Anhang der zweitgrößten Wirtschaftsnation der Welt, ähnlich dem Mezzogiorno im Süden Italiens.

Vorsicht - das abschließende Urteil über den wirtschaftlichen Weg Ostdeutschlands ist noch nicht gefällt. Denn der Zustand des Ostens zehn Jahre nach dem Mauerfall ist auch ein Sinnbild des Standortes West. Schon zuvor war den Ökonomen die Schwäche des deutschen Modells bekannt, wären Reformen der Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktverfassung im Westen nötig gewesen. Als die Menschen von Mecklenburg bis zum Harz erkannten, wie Marktwirtschaft funktioniert, lasteten neben gewaltigen Steuern auch überbordende soziale Sicherungssysteme schwer auf der deutschen Volkswirtschaft. Die Menschen in Köln oder Stuttgart ahnten bereits, dass das traditionelle Tarifsystem der Moderne angepasst werden musste, dass das Bildungssystem den Anforderungen einer High-Tech-Gesellschaft kaum gewachsen war und sich der Staat im Laufe der Zeit in der Wirtschaft viel zu breit gemacht hatte. Der Reformstau West behinderte den Aufbau Ost - Nicht nur damit, dass ein gewaltiger Katalog von sinnlosen Normen und Standards so manche Investition gleich im Keim erstrickt hat. So gesehen scheint es heute beinahe heldenhaft, dass es dem Osten trotzdem gelungen ist, sich von den wirtschaftlichen Trümmern der DDR so rasch zu befreien.

Nun muss es vor allem für die neuen Länder ein Zeichen der Hoffnung sein, dass in ganz Deutschland Reformen Platz greifen. Wenn es gut geht und die Bundesregierung und ihr Finanzminister nicht noch schwach werden, könnte das dem Osten auch einen Vorsprung vor dem Westen schaffen. Es scheint, dass Menschen, die verkrustete Strukturen der Gesellschaft aufweichen wollen, womöglich im Osten verständnisvoller aufgenommen werden als anderswo. Vielleicht öffnet man sich in der Not neuen Modellen der Wirtschaft leichter. Zum anderen haben sich mittlerweile im Osten viel mehr Inseln der ökonomischen Prosperität als die altbekannten Beispiele Dresden und Jena herausgebildet. Es gibt viel Aufbruch. Aus ihnen heraus wachsen mit einer Dynamik, die dem internationalen Trend nicht nachsteht, Unternehmen, die ihr Geld statt mit den Technologien von gestern mit denen von morgen verdienen. Das kann zwar die vielen arbeitslosen Chemiewerker, Maschinenbauer, Stahlschweißer und Kohlekumpel nicht trösten, die vergeblich auf Industrieansiedlungen warten. Doch den jungen Leuten ist es ein Hoffnungssignal: Der Osten hat eine Chance.

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