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Politik: Und wenn du gehst, dann geht nur ein Teil von dir

Über Kacajnik steigt Rauch auf. Immer wieder sind Schüsse und Explosionen zu hören.

Über Kacajnik steigt Rauch auf. Immer wieder sind Schüsse und Explosionen zu hören. Von den umliegenden Hügeln und aus den Wäldern können die versprengten Kämpfer der "Kosovo-Befreiungsarmee" (UCK) den Abzug der serbischen Einheiten aus der Stadt nahe der Grenze zu Mazedonien verfolgen. Doch vor dem Abzug wird offenbar alles, was noch nicht zerstört ist, in Brand gesetzt.

Die albanischen Rebellen können nur erahnen, was unten in der Stadt und den umliegenden Dörfern passiert. Werden Spuren verwischt, wie ein UCK-Kommandant gegenüber westlichen Journalisten vermutet? Oder sprengen die serbischen Einheiten die schon vor Monaten verminten Brücken und Tunnels, durch die die Nato-Truppen in den nächsten Stunden einziehen wollen? Gegenüber der Nato haben sich die albanischen Rebellen verpflichtet, den Abzug der serbischen Einheiten nicht für einen Vorstoß oder Angriffe zu nutzen. Doch werden die UCK-Kämpfer zusehen, wie in den Stunden des Abzuges die letzten verbliebenen Häuser unbewohnbar gemacht werden?

Die Angst vor den Stunden des Vakuums ist groß - auf allen Seiten. In der Hauptstadt Pristina, rund 50 Kilometer weiter nördlich, ist die Stimmung diffus. Die drückende Stille der letzten Nacht wird nur von Schüssen der abziehenden Soldaten unterbrochen. Sind es Schüsse der Freude darüber, das Nato-Bombardement überlebt zu haben? Oder ist es ein Ausdruck der Wut über die Niederlage gegen die größte Militärmacht der Welt? Die Serben in der Stadt, die einst rund 200 000 Einwohner hatte, fürchten sich, bald schutzlos dazustehen. Einige haben schon vor Wochen ihre Familien ins serbische Kernland in Sicherheit geschickt.

Am Tag vor dem Durchbruch zum Frieden warnt Momcilo Trajkovic, Führer der Kosovo-Serben, auf einer kleinen Kundgebung in Pristina vor "Rache und Vergeltung". Er bittet den Westen um Schutz. Und Bischof Artemije erinnert die versammelten Serben an die patrotische Pflicht, auf dem heiligen serbischen Boden des Amselfelds auszuharren. Doch was wird passieren, wenn albanische Rückkehrer und Kosovo-Serben zusammentreffen? Die Albaner in Mazedoniens Flüchtlingslagern wissen oft genau, wer ihr Haus geplündert oder gar angezündet hat. Meist waren es Polizisten oder Paramilitärs, die sich in den leeren Häuser der vertriebenen Albaner bedienten. Manchmal waren es aber auch die serbischen Nachbaren, die die "Gunst der Stunde" nutzten.

Im Schatten des Abzugs der Belgrader Einheiten könnten nun albanische Rebellen in Pristina einziehen und serbische Zivilisten vertreiben. Heckenschützen machen angeblich die Umgebung von Pristina seit einigen Tagen unsicher. Auch ein israelischer Journalist wurde getroffen. "In den letzten 20 Tagen sind zwei meiner besten Freunde in den Kopf geschossen worden", klagt der Kellner in einem der wenigen noch geöffneten Restaurants. Am Freitag machen Gerüchte die Runde, wonach ein russisches Kontingent Richtung Hauptstadt unterwegs ist, um dort den Schutz der serbischen Zivilbevölkerung zu garantieren.

Die Albaner von Pristina verfolgen die nächtlichen Schießorgien hinter zugezogenen Vorhängen und in verdunkelten Wohnungen. "Ich kann nicht genau sagen, was passiert, denn ich kann nicht hinaus auf die Straße", sagt Iliriana, eine junge Albanerin. Doch am frühen Morgen hat sie Rauchwolken über der Stadt gesichtet. Und Freunde haben ihr von den Möbeln berichtet, die von den abziehenden Einheiten auf Lastwagen geladen werden. Genau so hat sich Iliriana das Ende während der langen Tagen und Nächten vorgestellt. Wochenlang haben sich die Albaner nicht aus ihren Häusern gewagt. Oder höchstens dann, wenn die Nato gerade wieder einen Angriff flog. Die Stunden des Luftalarms waren für die Albaner sicher, weil dann die Straßen menschenleer, Polizisten und Paramilitärs in Kellern und Bunkern in Deckung waren. Alle albanischen Restaurants und Geschäftslokale sind jetzt geplündert oder zerstört. Um etwas Brot zu kaufen, schickt man Frauen und alte Männer. Denn nur sie haben eine Chance, im serbischen Laden bedient zu werden.

Dabei kann, wer in der Hauptstadt ein Dach über dem Kopf hat, sich glücklich schätzen. Draußen, in der unwegsamen Provinz, irren Tausende zum Teil schon seit Wochen durch die Wälder auf der Suche nach etwas Schutz und Nahrung. Eine amerikanische Hilfsorganisation hat zwar begonnen, über dem Kosovo Lebensmittelpakete abzuwerfen. Doch niemand weiß, ob die Hilfe bei den verzweifelten, in alle Winde verwehten Adressaten angekommen ist. In den Hügeln gibt es nur Blätter oder Maiskörner als rohe Kost. Neugeborene sterben, und Verletzte erliegen ihren Wunden. Medikamente sind schon lange Mangelware. Frauen und Kinder schlafen unter freiem Himmel oder in Plastikplanen eingewickelt. Für die Albaner sind die Nato-Soldaten die ersehnten Beschützer. Die wenigen Stunden bis zu ihrer Ankunft erscheinen ihnen endlos lang.

Auch durch die Kleinstadt Podujevo, etwa vierzig Kilometer nördlich von Pristina, fahren seit Donnerstag lange Kolonnen serbischer Armee- und Polizeifahrzeuge in Richtung Heimat. Die wenigen Serben, die am Straßenrand stehen und den Abzug beobachten, reden nicht viel. Geschockt wirken sie, sehr blaß. Als ob sie gar nicht glauben wollen, was vor ihren Augen passiert. "Das war alles, was wir hatten", sagt einer von ihnen leise. "Jetzt gibt es niemanden mehr, der uns verteidigen kann. Nun werden sie versuchen, uns die Kehle durchzuschneiden."

Der Mann, der Angst hat vor der UCK, zeigt auf die geplünderten Geschäfte und zerstörten Straßen seiner Stadt. Daß es die serbischen Sicherheitskräfte waren, die Podujevo so zugerichtet haben, will er nicht wahrhaben. Vor dem Ausbruch der Gewalt waren 95 Prozent der Bewohner Podujevos Albaner. Rund 1500 Serben lebten in der Stadt. Die meisten von ihnen haben sich schon auf den Weg gemacht. Vukasin Zivaljevic packt ebenfalls seine Sachen. "Mir bleibt gerade noch Zeit bis zum Abend, um mich aus dem Staub zu machen", sagt er. "Denn ich bin sicher, heute abend kommt die UCK zurück in die Stadt."

Die Angst vor der UCK ist so groß, daß sich einige Serben sogar nach den Soldaten jener Staaten sehnen, die Milosevic zum Rückzug gezwungen haben. "Unsere Armee zieht ab, wo sind die Truppen der Vereinten Nationen?", fragt Srbislav Biseric, der Chef der Stadtverwaltung von Podujevo. Biseric bemüht sich verzweifelt, möglichst viele Serben zum Bleiben zu bewegen. Aber leicht fällt ihm das nicht. "Sie sind eingeschüchtert, sie haben Angst vor der Rache der Albaner", sagt Biseric. "Sie fürchten um das Leben ihrer Frauen und Kinder."

Vor Shukri Rexhepi müssen sie keine Angst haben. Der ehemalige Englischprofessor, der jetzt Fahrzeugersatzteile verkauft, steht vor seinem Laden und beobachtet den Abzug. Shukri und seine Familie gehören zu mehreren zehntausend Kosovo-Albanern, die noch vor der Einstellung der Nato-Bombardierungen in ihre Häuser zurückgekehrt sind. "Niemand hat uns vertrieben, aber es wurde immer schärfer geschossen, und mein sechs Monate altes Baby konnte nicht mehr schlafen", sagt er und zieht an seiner Zigarette. Gleich nach Beginn der Luftangriffe hatte er sich seinen Landsleuten angeschlossen, die schon früher in die umliegenden Wälder und Berge geflüchtetet waren.

Nach wochenlangem Umherirren, Durst, nächtlicher Kälte und Hunger haben serbische Behörden etwa 40 000 dieser Flüchtlinge, darunter auch die Familie Rexhepi, im nahen Dorf Sajkovac untergebracht. Die Serben, so eine offizielle Quelle, wollten so das Einschleusen von Angehörigen der UCK "in die Flüchtlingsmasse" verhindern. "Wir wurden nicht mißhandelt", versichert die 30jährige Margarita, die nach sechswöchigem Irrgang in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist. Mit ihren drei Kindern ist sie in einer Garage neben dem Haus ihrer Verwandten untergebracht. Geschlafen wird auf Schaumstoffmatten. Für die kühlen Nächte haben sie bloß dünne Decken.

"Nur alte Männer, Frauen und Kinder sind bisher zurückgekommen. Die jüngeren Männer verstecken sich noch in den Wäldern. Sie haben Angst, die serbische Polizei werde sie alle hinrichten", berichtet sie. Sie selbst hatte keine Probleme mit den Soldaten und Polizisten: "Die haben uns manchmal sogar Nahrungsmittel gegeben", sagt sie und zeigt auf ihr eigenes Haus. An dessen Wand ist in albanischer und serbischer Sprache mit großen schwarzen Buchstaben "Vorsicht, Minen" aufgepinselt.

"Nach vier Tagen in Sajkovac kam ein Polizist und sagte, daß wir alle nach Podujevo zurückkehren dürfen", sagt Shukri und hofft, daß mit dem Ende der Bombardierungen und der Bodenkämpfe die Lage im Kosovo nun besser werden könne. Noch während des Gesprächs betreten zwei serbische Polizisten den kleinen Laden. Sie begrüßen freundlich seine Mutter und kaufen Zündkerzen für ihr Auto, mit dem sie nach Serbien abziehen müssen.

Ihren Landsmann Vuceta Djordjevic lassen sie zurück. Der 52jährige Mann packt gerade seinen Hausstand. Djordjevic will mit Frau, drei Kindern und sechs Enkelkindern nach Kursumlija aufbrechen - ein Ort in Serbien, wo Verwandte von ihm wohnen. Falls möglich, sagt er, will er seine Schafe und seine Rinder mitnehmen. "Natürlich habe ich Angst, daß die UCK wieder aus den Wäldern kommt", sagt Djordjevic. Nervös reibt er sich die Hände. Albaner gibt es keine mehr in seinem Ort. Djordjevic, der nichts Böses getan haben will, hat trotzdem Angst davor, zu Hause zu sein, wenn sie wiederkommen.

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