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Politik: Und zieh Dichwarm an!

Ein Postskriptum nach der Wahl

Lieber P.,

erinnerst Du Dich noch an ganz früher? Vergangenes Jahrhundert, 60er Jahre? Als wir bis tief in die Nacht vor dem Radioapparat saßen und Wahlkreisergebnisse notierten? Und schließlich Adenauer wieder gewonnen hatte? In den 80er Jahren ging es dann ja Ruck-Zuck. Kaum waren die Wahllokale geschlossen, war Helmut Kohl wieder Kanzler. Die Phase der Spannung dauerte ganze 60 Sekunden, von 18.00 Uhr bis 18.01 Uhr, und wir gingen zum Italiener.

An diesem Sonntagabend war fast alles wie ganz früher – mit einem wichtigen Unterschied: Man konnte die Wahlkämpfer dabei beobachten, wie sie jubelten und wie sie litten, wie sie hofften und bangten. Hast Du mitgekriegt, wie Edmund Stoiber sich zum Wahlsieger erklärte, aber sagte, dass er jetzt noch kein Glas Champagner öffnen (sic!) werde? Oder Guido Westerwelle, als er auf die Frage, ob 18 minus Möllemann sieben sei, meinte, die FDP sei unter ihren Möglichkeiten geblieben? Supercool, die Antwort. Auf und ab ging’s an diesem Abend, und die Wahlforscher hatten alle Mühe, mit den Hochrechnungen und Ergebnissen Schritt zu halten.

Am interessantesten fand ich die blaue Info-Leiste auf dem ntv-Bildschirm: Ab 21 Uhr 14 lief dort den ganzen Abend die Hochrechnung des Forsa-Instituts: CDU/CSU 38,3, SPD 38,3… hieß es da bis weit nach Mitternacht. Und als ich um viertel nach zwei Uhr nachts die Kiste ausschaltete, lautete das Endergebnis 38,5 zu 38,5. Chapeau!

Zeit für die Wahrheit also: Meine Prognose, die ich am Montag vor der Wahl bei Dir deponierte, weist zum tatsächlichen Wahlergebnis eine kumulierte Abweichung von 7,6 Prozentpunkten aus. Ich habe CDU/CSU zu niedrig und die FDP zu hoch taxiert. Aber! Schau Dir noch mal meine Koalitionsprognose an! Rot-Grün habe ich mit 0,5 Punkten vor Schwarz-Gelb gesehen; tatsächlich ist der Vorsprung 0,2 Punkte. Allensbach hingegen hatte noch vergangenen Mittwoch für Schwarz-Gelb einen Vorsprung von 3,2 Prozentpunkten vor Rot-Grün vorausgesagt. Da kann ich nur sagen: Land unter am Bodensee!

Worauf ist jetzt zu achten? Wir hier in der Hauptstadt schauen mit einer gewissen Skepsis in die Zukunft, worüber die flapsig gute Laune des alten und neuen Bundeskanzlers nicht wirklich hinweg helfen kann. So knapp wie jetzt war eine Koalitionsmehrheit in Deutschland noch nie: Mit neun Mandaten führen SPD und Grüne vor Union, FDP und den beiden PDS-lern. Helmut Schmidt hatte 1976 zehn Sitze Vorsprung, Willy Brandt und Walter Scheel 1969 immerhin 18 Sitze. Andererseits haben knappe Mehrheiten deutsche Regierungen nicht daran gehindert, auch höchst umstrittene politische Entscheidungen durchzusetzen, etwa die neue Ostpolitik in den Jahren 1969 bis 1972. Freilich wäre die sozialliberale Koalition daran fast zerbrochen, wie wir wissen.

Edmund Stoiber verarbeitete seinen Sieg ebenso schnell wie seine Niederlage. Was es nun genau war, ist nicht so ganz klar. Angesichts des amtlichen Endergebnisses, demzufolge die SPD mit 8864 Stimmen Vorsprung vor der Union stärkste Partei geworden war, sagte er am Montag: „Nach wie vor ist die CDU/CSU die Gewinnerin der Wahl.“ Und Angela Merkel meinte: „So viel Union wie heute war nie.“ Ich kann das nicht ganz nachvollziehen. Ein Blick auf die Wahlergebnisse seit 1953 zeigt, dass mit der Ausnahme von 1998 noch nie so wenig Union war wie heute. Aber das sind wahrscheinlich Petitessen.

Wichtig scheint zu sein, dass Stoiber sein Scheitern als einen strategischen Erfolg analysiert. Ist Dir aufgefallen, wie gelöst er wirkte, nachdem er realisiert hatte, dass er nicht würde Bundeskanzler werden müssen? Kein Stück Enttäuschung war ihm anzumerken. Ich glaube, die Rolle, die jetzt auf ihn wartet, ist wie für ihn geschrieben: Kanzler im Wartestand. Von Bayern wird eine kraftvolle Opposition ausgehen. „Es wird ein bitterer Winter werden“, sagt Stoiber. Offenbar muss sich der Kanzler warm anziehen.

Hier in Berlin ist es bereits jetzt lausig kalt. Und ein bisschen müde sind wir auch. Aber wir hoffen natürlich, dass sich die Lage bessert und auch die transatlantische Eiszeit überwunden wird. Und es mit Deutschland aufwärts geht.

Wir müssen uns bald einmal sehen, und alles gründlich besprechen. War nett, mit Dir zu plaudern. Also tschüss.

Dein M.

Martin E. Süskind

erklärt einem bayrischen Vertrauten die Berliner Republik

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