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Politik: Unfreiwillige Pioniere

Von Tissy Bruns

Zu spät, zu langsam und ohne nachvollziehbares positives Ziel. Das sind die sattsam bekannten Erklärungen dafür, warum der Reformprozess in Deutschland so schwer nur Akzeptanz und Zustimmung findet. Der wichtigste Grund dafür ist aber die Angst, die im Verborgenen blüht. Es ist keine Übertreibung: Die Reformen finden in Parallelwelten statt. Der einen, über die ganz Deutschland redet, und der anderen, mit der jeder seine Erfahrungen im Stillen macht. Mehr arbeiten für weniger Geld? Man muss schon Sinn für schwarzen Humor haben, um in der Feiertags und Urlaubsdebatte eine neue Idee zu entdecken. Viele Menschen arbeiten längst mehr für weniger Geld. Und wer es selbst nicht muss, kennt einen, dem es so ergeht. Für gewöhnlich in der eigenen Firma. Längst werden die Neuen zu viel schlechteren Bedingungen angestellt als früher.

So hat sich entlang der großen Spaltungslinie zwischen drinnen und draußen eine neue Zone entwickelt. Wer dort angesiedelt ist, muss den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ für eine schöne Erinnerung an eine untergegangene Zeit halten. Während die Fahnen des Flächentarifs noch hochgehalten werden, hat der Markt längst eine Lohn- und Gehaltsstruktur erzwungen, die große Unterschiede macht. Drinnen ist, wer Arbeit hat, und draußen, wer keine findet: Weil das so ist, gibt es inzwischen auch die unfreiwilligen Pioniere einer Radikalkur, die in keiner Regierungsagenda aufgeschrieben ist. Das sind alle, die in den Arbeitsprozess einsteigen. Alle jungen Leute, Frauen nach Berufsunterbrechungen, die unternehmerischen Beinah-Millionäre der Hype-Phase, Arbeitslose, die nicht nach Zumutbarkeit fragen.

Kurzum: Menschen, die richtig arbeiten wollen. Der Unterschied zwischen ihnen und denen, die mit den Tarif- und Arbeitsverträgen aus besseren Zeiten im selben Betrieb arbeiten, ist nicht nur eine oft beträchtliche Gehaltsdifferenz. Diese „Neuen“ wissen, dass sie die ruhigeren Fahrwasser ihrer Kollegen, ihre Sicherheiten, ihr Einkommensniveau auch bei großer Anstrengung nicht erreichen werden. Besser verdienend und besser gestellt sind nicht unbedingt die Kollegen, die mehr Leistung und Berufserfahrung vorzuweisen haben. Es reicht, früher dabei gewesen zu sein. Das strapaziert das Gerechtigkeitsgefühl im Arbeitsalltag mehr als die hohen Managergehälter. Die Neuen besetzen einen Arbeitsplatz, für den dreißig andere Bewerber ebenso geeignet wären – und sehen, dass die alteingesessenen Arbeitsplatzbesitzer um nichts konkurrieren müssen.

Die wiederum spüren einen kalten Hauch im Nacken. Wer nüchtern denkt, weiß, dass die niedrigen Gehälter der Einsteiger auf längere Sicht das gesamte Einkommensniveau senken werden. Und eine bewährte Formel hat ihre Kraft verloren. „Als ich so jung war wie Sie …“ – damit können heute die Spannungen zwischen ungleichen Kollegen nicht gebannt werden. Denn die Vorgesetzten von heute sind in der Regel nicht im Nachkrieg ins Berufsleben gestartet, sondern in den fetten Jahren der Republik.

Alles schwierig. Aber es bringt uns voran. Denn die unfreiwilligen Pioniere sind die Brückenbauer zwischen drinnen und draußen. Diese Kluft bleibt die schlimmste Bedrohung für das Einkommensgefüge und unseren Wohlstand, auf kurze Sicht und auch für alle, die gut bezahlte Arbeit haben. Wenn viele Menschen draußen stehen, müssen die drinnen dafür bezahlen. Das sehen Millionen Menschen Monat für Monat auf ihren Gehaltsabrechnungen, mit wachsenden Befürchtungen, dass auch ihre Arbeit unbezahlbar werden könnte.

Schlimm ist nur, dass die neue Ungleichheit sich hinter dem Rücken der Akteure entwickelt und ohne Ehrlichkeit. Was im Verborgenen wächst, macht immer Angst. Die Gewerkschaften verteidigen eine Gleichheit, die sie in vielen Betriebsvereinbarungen schon aufgegeben haben. Die Arbeitgeber predigen den allgemeinen Verzicht, obwohl sie den konkreten schon durchsetzen. Kein Wunder, dass viele Menschen sich fragen: Was wollen die denn noch von uns?

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