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Solidaritätsbekundung. Vor dem Parlament in Budapest demonstriert ein Mann gegen die antisemitischen Äußerungen des Abgeordneten Marton Gyöngyösi.

© dpa

Ungarn: Antisemitismus im Wochentakt

Judenfeindliche Vorfälle gehören in Ungarn zum Alltag. Die rechtskonservative Regierung von Viktor Orban distanziert sich oft nur halbherzig von den Urhebern. In Brüssel lösen die jüngsten antisemitischen Äußerungen des Jobbik-Abgeordneten Marton Gyöngyösi hingegen deutliche Kritik aus.

Rund 300 Menschen sammeln sich am Dienstagnachmittag vor dem neogotischen Parlamentsgebäude in Budapest, manche tragen an den Jacken und Mänteln einen gelben Davidstern. Die Kundgebung beginnt, eine Petition wird unterzeichnet und eingereicht, Studenten unterhalten sich mit Holocaust-Überlebenden. „Jeder Demokrat soll einen Judenstern tragen“, steht auf einem der Transparente. Die Versammlung löst sich nach dem Einbruch der Dunkelheit auf. „Wir sind frustriert, dass wir nicht mehr machen können, wenn wir so wenig sind. Empörung allein reicht nicht“, sagt eine ältere Dame.

Der Protest richtet sich gegen den jüngsten antisemitischen Vorfall in einer langen Liste, die im heutigen Ungarn fast wöchentlich noch länger wird. Während einer Debatte über den bewaffneten Konflikt zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas hatte Marton Gyöngyösi, der außenpolitische Sprecher der Jobbik-Partei, am Montag gefordert, eine Liste von Juden zu erstellen – vor allem von denjenigen, die im Parlament und in der Regierung sitzen.

Gyöngyösi hatte vorher die pro-israelischen Stellungnahmen der ungarischen Regierung im Gaza-Konflikt kritisiert. Staatssekretär Zsolt Nemeth antwortete, dass die rund 200 000 Ungarn jüdischer Herkunft nicht einfach ignoriert werden könnten. Darauf machte Gyöngyösi seinen Vorschlag mit den Listen. Die Juden stellten angesichts des Gaza-Konflikts eine Gefahr für die nationale Sicherheit dar, sagte der Rechtsextreme.

Die Äußerungen Gyöngyösis haben inzwischen auch international einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Die Botschaften Israels und der USA, das Simon-Wiesenthal-Zentrum und zahlreiche Menschenrechtsorganisationen verurteilten den Vorfall. Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald Lauder, forderte Ungarns rechts-konservativen Regierungschef Viktor Orban auf, sich den Extremisten entgegenzustellen. „Leider stellt man fest, dass die ungarische Regierung oft nur zögerlich auf volksverhetzende Äußerungen reagiert – und es meist bei verbalen Verurteilungen bewenden lässt“, sagte Lauder dem Tagesspiegel. Es sei traurig, dass ausgerechnet in Ungarn, wo Juden während des Holocaust so viel Leid angetan wurde, nun der Antisemitismus „wieder offen seine hässliche Fratze“ zeige. Noch schlimmer sei es allerdings, wie vor allem Roma pauschal als Kriminelle verunglimpft und von Schlägerbanden aus dem Umfeld von Jobbik eingeschüchtert werden.

Auch für den EU-Betrieb in Brüssel sind die Äußerungen des Jobbik-Abgeordneten inzwischen zum Thema geworden. EU-Kommissionssprecher Michele Cercone erklärte, dass Ungarns Justiz entscheiden müsse, ob Gyöngyösis Tirade eine Anstiftung zum Judenhass darstelle. Die Kommission hatte im vergangenen April im Streit über die ungarische Staatsreform die von der Fidesz-Partei geführte Regierung von Orban vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt.

Der Vizepräsident des Europaparlaments, Alexander Alvaro (FDP), machte Orban den Vorwurf, durch seine Änderung der Verfassung, die unter anderem die Unabhängigkeit der Justiz einschränkt, die Umtriebe der Jobbik-Partei „subtil zu unterstützen“. Auch in anderen Fraktionen des Europaparlaments, in dem auch drei Jobbik-Abgeordnete vertreten sind, ist der Unmut über den jüngsten antisemitischen Vorfall in Budapest groß. „Jetzt müssen die Zivilgesellschaft und die Politik reagieren – nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Europa“, forderte der Grünen-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht.

Orbans Kabinett distanzierte sich derweil von den Äußerungen des Jobbik-Abgeordneten: „Die Regierung lehnt jede Art von extremistischen, rassistischen und antisemitischen Äußerungen strikt ab." Die Regierung stellte gleichzeitig in einem knappen Statement klar, "dass sie alle ungarischen Bürger gegen solche Beleidigungen schützen wird.“

Doch die Realität sieht ganz anders aus. In Ungarn sind rechtsextreme Ansichten mit Blitzgeschwindigkeit salonfähig geworden. Kundgebungen und Demonstrationen der rechtsextremen Jobbik und deren paramilitärischer Organisation „Ungarische Garde“ gehören seit zwei Jahren zum Alltag der Budapester Innenstadt. Das kleine, traditionell offene Land isoliert sich immer weiter und wird immer öfter von den alten braunen Gespenstern heimgesucht. „Viktor Orbans Rechtspopulisten verfügen über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und könnten in der Theorie zumindest versuchen, diese sehr gefährliche Entwicklung zu verhindern“, sagte der Politologe Janos Kis. „Doch das Gegenteil ist der Fall: Zwischen Fidesz und Jobbik gibt es keine klaren Grenzen mehr.“

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