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Ungarn: Roma wollen sich mit Eliteschule selbst helfen

Er will sich für die Roma einsetzen, sagt Viktor Orbán, Ministerpräsident von Ungarn, das nun den EU-Vorsitz innehat. In seinem Land aber versuchen die längst, sich selbst zu helfen.

Er säubert die Straßengräben, fegt Blätter von der Fahrbahn. Er macht das im Auftrag der lokalen Verwaltung, die ihn auch bezahlt. Damit geht es seiner Familie schon etwas besser als anderen. Aber damit soll es nicht enden.

Zsolt Jovanovic, 36, hat seinen ältesten Sohn Peter aufs Gymnasium geschickt. Auf ein Gymnasium für Roma.

„Wenn ich nicht sicher wäre, dass mein Sohn in der Schule als Zigeuner akzeptiert wird, würde ich ihn nie hinschicken“, sagt er. Zigeuner, so nennen sie sich hier. Die politische Korrektheit des Westens mögen sie nicht.

Familie Jovanovic, Eltern und drei Kinder, wohnen im südungarischen Siklósnagyfalu, 80 Kilometer südlich von Pécs, das 2010 Kulturhauptstadt war. Die einzige asphaltierte Straße, die durchs Dorf führt, wurde seit Jahren nicht mehr erneuert. Ein Schlagloch neben dem nächsten. Ganz ruhig ist es hier am Tag. Dutzende von Hunden stromern herum. Am Straßengraben, da, wo sonst auch Zsolt Jovanovic arbeitet, sind heute einige Frauen in Sportanzügen mit Harken unterwegs. Sie machen gerade Pause. Wie eine dicke Wolke umweht sie der Rauch der billigen Zigaretten.

Die Region ist bekannt für guten Wein – und für arme Roma-Siedlungen. In Siklósnagyfalu sind beinahe alle Einwohner arbeitslos. Die alten wie die jungen. Und lange hat die Alten das Schicksal, in das sie ihre Kinder entlassen, nicht gekümmert. Aber das ändert sich gerade.

1994 wurde in Pécs das Ghandi-Gymnasium eröffnet, die einzige Oberschule ihrer Art weltweit, von Roma für Roma. Mit viel Engagement und Spenden, auch aus Deutschland. Aber hauptsächlich finanziert von der ungarischen Regierung. Eine Schule extra für Roma-Kinder – das passt zur jetzt beginnenden EU-Ratspräsidentschaft des Landes, sechs Monate, in denen die Situation der Roma im Blickpunkt stehen soll.

Das Gandhi-Gymnasium ist ein verglastes, hochmodernes Schulgebäude am Rande der Stadt. Ausgestattet mit Computern, Laboratorien, einer riesigen Sporthalle, einer Bibliothek. Ein Internat gehört auch dazu, mit Platz für die meisten der rund 250 Schüler. An den Wänden hängen Fotos von Jugendlichen in festlicher Kleidung. Abiturienten. Der Erfolg soll sichtbar sein für Schüler und Eltern. Das Ziel ist, eine Roma-Elite zu schaffen. Eine, die als Beispiel dienen kann für die Nachfolgenden, die Wege bereitet, Räume auftut.

„Kostenloses Internat, Mahlzeiten, Bücher“, damit wirbt die Schule. Die Eltern bezahlen nichts. Anders ginge es auch gar nicht. Würde die Schule kosten, säße hier heute kein einziges Kind.

Die Jugendlichen zu locken ist noch die einfachste Aufgabe, die Eltern allerdings sind eine ganz andere Geschichte. Die Beziehungen innerhalb der Roma-Familien sind sehr eng. Eltern wollen ihre Kinder nicht weggeben, Töchter erst recht nicht. Viele Roma misstrauen außerdem grundsätzlich allen Behörden, die ihnen im besten Fall nicht helfen und im schlimmsten Fall schaden. Und was ist eine Schule schon anderes als die Verlängerung einer Behörde?

„Man muss sich nur das Fernsehen anschauen, um zu sehen, wie die Atmosphäre gegenüber Roma ist. Ausgelacht und erniedrigt werden sie“, sagt auch Zsolt Jovanovic.

Das ist in Pécs anders. Die Lehrer sind zum großen Teil selber Roma, die Leiterin auch, die Mehrheit der Kuratoriumsmitglieder genauso. „Das sind unsere“, heißt es. Es weckt ein bisschen Vertrauen.

„Heute reden wir über Mitochondrien.“ Csaba Lakatos, 30, ein jugendlicher Typ in schwarzen Jeans und kariertem Hemd, klappt das Buch auf. Die Jugendlichen im Klassenraum sind in Gedanken noch in der Pause. Sie reden laut, lachen. Lakatos bleibt ruhig. Er weiß noch, wie man sich fühlt in dem Alter. Es ist nicht allzu lange her, dass er selber Schüler war am Roma-Gymnasium. Er gehörte zum ersten Jahrgang. Nun ist er hier Lehrer.

„Ruhe, die Pause ist vorbei“, er hebt etwas die Stimme, „oder will jemand die Klassenarbeit vermasseln?“

Die Schüler tragen T-Shirts, Kapuzenpullover, Blusen, Jeans, wie ihr Lehrer, aber anders als der auch auffällige Ketten am Hals, bei anderen glänzen goldene Siegelringe an den Fingern. Und zwischen den langen, dunklen Haaren der Mädchen blitzen große Ohrringe hervor.

Lakatos ist an der Schule geblieben, weil er eine Schuld zurückzahlen will. Er möchte anderen Roma-Kindern helfen, so, wie ihm damals geholfen wurde. „Damit die Roma stolz auf sich werden können“, sagt er. Seine Eltern jedenfalls seien stolz auf ihn.

Auch Csaba Lakatos stammt aus einer armen Roma-Siedlung, die 200 Kilometer von Pécs entfernt liegt. Zehn Geschwister waren sie, sie lebten in einer Hütte, in der es kein Wasser aus der Leitung gab. Bücher erst recht nicht. Wozu sollte man die brauchen? Der Vater war fünf Jahre lang zur Schule gegangen, hatte einen Aushilfsjob in einem Agrarkombinat, bei den Kühen, die Mutter arbeitete als Putzfrau. Die Kinder mussten die Familie unterstützen, Geld gab es sonst zu wenig. Nach der Wende verlor der Vater seinen Job. Es wurde noch schlimmer. „Die Geschwister haben die Grundschule abgeschlossen und sind arbeiten gegangen“, erzählt Csaba Lakatos. Der erste Bruder, der zweite, dann die zwei älteren Schwestern. Einer nach dem anderen. Er war der drittjüngste. Das kam ihm zugute.

Als er im Jahr 1994 in der achten Klasse war und die Zeit nahte, dass auch er arbeiten sollte, kam ein Sozialpädagoge aus Pécs an Csaba Lakatos’ Schule. Der erzählte von einer neuen Schule. Von einer Schule, die Träume wahr werden lassen wollte.

Nach unterschiedlichen Schätzungen leben in Ungarn bis zu 800 000 Roma. Sie gelten als die einzige von 13 Minderheiten, die nicht integriert ist, aufgrund sozialer „Deklassifizierung“. Roma-Intellektuelle gibt es kaum, die eigenen Eliten waren stets zu dünn, um das Volk zum Aufstieg zu motivieren, die Behörden interessierte es nicht – und in den meisten Roma-Familien gibt es keine Bildungstradition. Kein Bedürfnis danach.

Zwar gilt in Ungarn eine Schulpflicht bis zum 16. Lebensjahr, doch achtet niemand darauf, ob ein Kind während dieser Zeit seine Ausbildung auch tatsächlich absolviert. Schon immer hatten die Roma eine schlechte Bildung. Im Sozialismus bekamen sie trotzdem einen Job, als Aushilfe in der Industrie oder in der Landwirtschaft. Damit ist seit der Wende Schluss. Die unausgebildeten Arbeiter wurden als Erste entlassen. Die Roma.

Erzsébet Orsós-Gida kennt all die Probleme. Sie ist Diplom-Erziehungswissenschaftlerin, zurzeit promoviert sie in Psychologie an der Universität in Pécs. Als einzige Roma. Und sie ist seit 2009 die Leiterin des Gandhi-Gymnasiums. Wenn sie spricht, gestikuliert sie viel, filigrane Schmuckreifen klirren dann an ihren Armen. An ihrem Kostüm prangt eine weiße Blume, um den Hals trägt sie eine Kette mit einem großen Anhänger. „Es geht darum, eine Roma-Elite aufzubauen“, erklärt sie. Den Teufelskreis aus Ziellosigkeit und gesellschaftlicher Nichtteilhabe zu durchbrechen.

Sie erzählt das Beispiel von einem Roma-Jungen, der mit 16 Jahren immer noch in die fünfte Klasse geht, so oft ist er sitzen geblieben. Er besucht eine Schule, damit seine Eltern das Kindergeld kriegen. Doch weder er noch seine Eltern und die Schulleitung sehen den Abschluss als eine Chance. „Die Roma-Kinder brauchen eine besondere Unterstützung“, sagt Orsós-Gida. „Umso mehr, je weniger sie zu Hause gefordert werden.“

Es gibt Kritiker. Die werfen dem Gymnasium vor, es sei auch nur ein Ghetto. Wieder würden die Roma von den Ungarn getrennt. Den Vorwurf mag Erzsébet Orsós-Gida nicht. Die Schule ist auch für die anderen Kinder offen. In jeder Klasse gibt es zwei oder drei ethnische Ungarn. „Mehr bewerben sich nicht“, sagt sie. Es wäre sicher besser, wenn die Jugendlichen in einer heterogenen Atmosphäre lernen würden, aber das sei nicht das erste Ziel der Schule. „Wenn wir die Elite herangebildet haben, dann sind auch die Vorurteile abgebaut“, sagt Erzsébet Orsós-Gida. „Dann wird keine Extraschule für Roma mehr nötig sein.“

Der Weg dorthin ist noch schmal und wenig ausgetreten, aber er wird immer häufiger genutzt. 130 Dörfer in ganz Ungarn haben allein im Jahr 2009 Abgesandte zum Gymnasium geschickt, die in Erfahrung bringen sollten, was dort vor sich geht. Die Interessierten kamen vor allem aus den strukturschwachen Regionen Ungarns, wo die Situation der Roma am schlimmsten ist. Und umgekehrt werben die Sozialpädagogen aus Pécs unter den Roma-Familien. Sie sprechen vom Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Armut und Analphabetismus, von Chancen und Möglichkeiten, von einer besseren Zukunft.

„Nur wenn die jungen Menschen aus ihrer bisherigen sozialen Umgebung geholt werden, könnte das hoffnungslose Schicksal der ungarischen Roma sich wenden“, sagt auch Erzsébet Orsós-Gida. Es ist ihre Botschaft an die Eltern. „Wenn ihnen eine neue Perspektive gezeigt wird, eine Welt, die sie bisher nicht gesehen haben.“ Und auf den größten Zweifel entgegnet sie auch gleich: Nein, es gehe nicht darum, die Roma aus ihrer Kultur zu reißen.

Zwei Roma-Sprachen würden in der Schule unterrichtet, genauso wie die Roma-Volkskunde. Keinesfalls entfernten sich die Kinder von ihrer eigenen Kultur. Außerdem werde auch die Heimreise der Internatsschüler, am Wochenende oder in den Ferien, bezahlt. So vertrauten die Eltern der Schule mehr. „Uns geht es darum, dass sie Roma bleiben“, sagt Erzsébet Orsós-Gida, „aber ausgebildete Roma, die Elite nicht nur des Volkes, aber des Landes.“ Diesen Weg hält sie für aussichtsreich. Als einzigen.

Alle bisherigen Programme, die Roma helfen sollten, entpuppten sich als untauglich, sagt Orsós-Gida und ist darüber bei aller fröhlichen Energie doch verbittert. „Wenn die Leute in Medien hören, wie viel Geld es für Roma in Ungarn gibt, sind sie neidisch“, sagt sie. „Doch dass die Roma davon nur wenig gesehen haben, darüber wird selten gesprochen.“ Das Gymnasium hat große Ausgaben. EU-Geld wurde ihm versprochen – als ein Vorzeigeprojekt sollte die Schule gefördert und unterstützt werden. Doch kein Euro sei je angekommen.

Dass es Probleme mit den EU-Geldern gibt, bestätigt auch Zoltán Balog, Staatssekretär im Innenministerium. Es fehle an Transparenz und richtigen Verfahren. In den Jahren 1996 bis 2006 sollten von der Europäischen Union 120 Milliarden Forint für Roma nach Ungarn fließen. Davon könne man nur zehn Milliarden identifizieren, die auch tatsächlich beim Empfänger ankamen, sagt Balog.

Neue Siedlungen wurden für das Geld gebaut oder Kindergärten. Die restlichen Mittel verschwanden. Sie wurden von Verwaltungen vergeudet, auf Studien und Reisen, oder unter dem Tisch vergeben – nicht an Roma, sondern an die eigenen Bekannten. Oft sei die Vergabe der Gelder auch wenig durchdacht, meint Balog. So würde in einem Gebiet eine neue Siedlung für Roma gebaut, aber es fehlten die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, damit sie Geld verdienen könnten, um die Miete zu bezahlen. In einer zweiten Gemeinde gebe es zwar ABM, aber keine Schule für die Kinder. Wiederum in einer anderen gebe es ein Schulprojekt, aber zu wenig Roma-Kinder. „Sinnlos“, sagt Zoltán Balog.

So komme man nicht weiter. Auch darüber wolle Budapest in den kommenden sechs Monaten mit der EU sprechen, Viktor Orbán, der Ministerpräsident, will sich als derjenige zeigen, der das europäische Roma-Problem lösen kann.

Im Ghandi-Gymnasium überlegt derweil Abiturient Peter Jovanovic, was er studieren soll, Geschichte oder Jura. Dass er an die Universität geht, steht für ihn fest. In seinem Heimatdorf Siklósnagyfalu bereiten sich schon einige Grundschüler auf das Gandhi-Gymnasium vor. Selbst der Gemeindevorsteher hat seine Tochter dorthin geschickt. Der Werdegang von Peter überzeugte einige Eltern, dass es den Kindern dort gut geht.

„Es ist eine fantastische Chance für Roma“, glaubt inzwischen auch Peters Vater Zsolt Jovanovic. Hätte es schon damals, als er jung war, eine solche Schule gegeben, dann ginge es den ungarischen Zigeunern jetzt viel besser, sagt er.

Agnieszka Hreczuk[Siklósnagyfalu]

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