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Politik: Ungarn: Wo Kormorane und Reiher wachen

Die bizarre Szenerie scheint - künstlich und natürlich zugleich - von Floristen gesteckt: Abgestorbene Bäume recken ihr schwarzes Holz aus der Wasserfläche und weisen gen Himmel. Auf ihren Zweigen hocken Kormorane, Seeschwalben, Reiher und andere Vögel - Logenplätze über den Fischgründen.

Die bizarre Szenerie scheint - künstlich und natürlich zugleich - von Floristen gesteckt: Abgestorbene Bäume recken ihr schwarzes Holz aus der Wasserfläche und weisen gen Himmel. Auf ihren Zweigen hocken Kormorane, Seeschwalben, Reiher und andere Vögel - Logenplätze über den Fischgründen. Hier und da breitet einer sein Gefieder nach der Jagd zum Trocknen aus.

Ein richtiges Ufer ist nicht auszumachen. Mal erscheint als Insel, was dann doch nur schwimmendes Grün ist. Mal erscheint als Kanal, was dann doch nur eine Bucht ist. Der breite Schilfgürtel trennt und verbindet Wasser und Land. Immer wieder muss László, der Bootsführer, den Motor stoppen und das Gewirr aus Seerosen- und Wassernuss-Grün von der Schiffschraube wickeln. Dann tuckert er weiter, zum Unwillen der Angler im Schilf. Auf seine Frage, ob die Fische denn heute beißen, antworten sie dennoch und ziehen das Netz aus dem Wasser, in dem sie ihren Fang aufbewahren: vielfaches Zappeln.

Ein Sommertag am Theiß-See. Kaum zu glauben, dass dieser Idylle im Februar vergangenen Jahres das große Sterben drohte. Damals, als nahe der rumänischen Stadt Baia Mare das Becken einer Goldmine brach und eine giftige Cyanid-Flut die Theiß durchströmte. Doch damit nicht genug. Am 10. März brach im rumänischen Baia Borsa wieder ein Damm. Diesmal flutete mit Schwermetallen belasteter Schlamm in die Theiß.

Bei Lázló im Boot sitzt Gabriele Dobrocsi und plaudert mit ihm über Flora und Fauna. Für solch gemütliche Kahnpartien hat sie nur ganz selten mal Zeit; meist taucht das Wasser für sie lediglich in Form von langen Datenreihen zum Bakteriengehalt auf: Gesamtkoliforme, Fäkalkoloforme, Fäkalstreptokokken, Salmonellen ... Und wenn es um die Gift gebeutelte Theiß-Region geht, beschäftigt sie sich auch noch mit Zyanid und Schwermetallen.

Die junge Geografin aus Saarbrücken gehört zu jenem 15-köpfigen Team aus Wissenschaftlern, zumeist Biologen, das drei Sommermonate lang im Auftrag des Adac an den wichtigsten Stränden Europas Informationen über die aktuelle Wasserqualität sammelt. Zusammengefasst im "Sommerservice", soll vor allem badelustigen Familien die Entscheidung erleichtert werden, wo sie sich unbesorgt in den Wellen tummeln können.

Gabriele Dobrocsi konnte für den Theiß-See schon im Unglückssommer 2000 Unbedenklichkeit signalisieren. Das hing damit zusammen, dass der See nicht direkt aus dem angestauten Fluss entsteht, sondern sozusagen neben der Theiß und durch einige Kanäle mit ihr verbunden ist. "In den Tagen zwischen dem Unfall und dem Eintreffen der giftigen Woge wurde der See randvoll mit sauberem Wasser gefüllt und die Schleusen dann geschlossen. Damit waren 93 Prozent des Staubeckens geschützt. Die verschmutzte Theiß flutete am See vorbei. Währenddessen wurde auch Wasser am unteren Teil aus dem See abgeleitet, wodurch ein Sog den Abfluss beschleunigte und die Konzentration der Gifte verringerte. Messungen haben eindeutig ergeben, dass sich im Flussbett und im See nach dem Ablauf der Giftwelle die Zyanidkonzentration wieder auf so geringe Werte wie vor dem Unglück reduzierte. Das Angel- und Fischfangverbot Anfang des Sommers 2000 hing auch nicht mit vergifteten Tieren zusammen, sondern sollte dem Bestand helfen, sich wieder aufzubauen.

Und dennoch blieb mehr als der Schrecken an den Ufern der Theiß zurück. 124 Tonnen toter Fische wurden aus dem Wasser gezogen. Ein Vielfaches davon, vor allem kleinere Fische und Wassertiere, so schätzt man, nahmen die Fluten mit. Zwar ging keine Art gänzlich verloren, aber in der Nahrungskette nahmen einige Glieder Schaden, das ökologische Gleichgewicht ist auf Jahre hin gestört. Besonders schwerwiegend ist, dass seltene Fischarten, die nur in der Theiß und ihren Nebenarmen vorkommen in ihrem Bestand dezimiert wurden.

Hart war der Sommer 2000 auch für jene, die all ihre Hoffnungen in den Tourismus setzen und die im Gegensatz zu den Fischern keine staatlichen Ausgleichszahlungen kassieren. Cyanid und Schwermetalle waren schon längst verflossen, als der Name Theiß in den Köpfen derer, die eine Reise planten, bewusst oder unbewusst noch immer mit giftigem Wasser in Verbindung gebracht wurde. Dieses Jahr nun, so hofft man, werden sich die Tatsachen herumsprechen, die chemischen, die ökologischen und die touristischen auch.

Die Region um den Theiß-See war Ende der neunziger Jahre gerade dabei, sich über den langjährigen Inlandtourismus hinaus auch für die ausländischen Gäste zum Geheimtipp zu entwickeln. Wem der Balaton zu bunt und zu laut geworden war, der suchte und fand Ruhe und Beschaulichkeit 140 Kilometer östlich vom Budapest. Zwar wurden an der Theiß, um sie schiffbar zu machen und Hochwasser zu regulieren, schon vor 150 Jahren die ersten Dämme und Kanäle gebaut, der Tourismus an ihren Ufern steckt aber heute noch in den Kinderschuhen. Allerdings wurde das, was bereits vorhanden ist, beispielsweise ein paar gemütliche, familiengeführte Pensionen, sehr gelungen in die Landschaft eingepasst. "Viel mehr wollen wir hier auch nicht aus dem Boden stampfen", so Angelika Scitovszky, Marketing-Chefin der Region. "Große Hotelkomplexe passen nicht an den Theiß-See. Es soll bei Pensionen und Campingplätzen bleiben. Aber mehr Angebote, wie sich der Gast unsere Landschaft erschließen kann, werden wir noch machen."

Und wer es doch nicht immer ganz so still mag? Für den folgende Faustregel: Im Südwesten ist Party - im Nordosten Stille. Im südlichsten Becken darf man mit Jet-Ski und Motorboot über den See düsen. Im nördlichsten, einem ausgewiesenen Vogelreservat, sollte der Tourist während der Brutzeit (bis Mitte Juni) nicht einmal mit dem Kanu durch die Kanäle gleiten. Auf den Mittelbecken geht man den Mittelweg. Angeln und Kanufahren ist erlaubt, auch Segeln - oder wie mit László - zwischen den Vogelbäumen umherzutuckern.

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