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Politik: "Ungleiche Brüder": Im Zweifelsfall zuerst Österreich

Was unterscheidet heute einen Deutschen von einem Österreicher? In erster Linie Nationaldenken und Nationalstolz.

Was unterscheidet heute einen Deutschen von einem Österreicher? In erster Linie Nationaldenken und Nationalstolz. Denn in Österreich will man mehr sein als nur eine Staatsgemeinschaft. Die Suche nach einer eigenen nationalen und kulturellen Identität, die mit der Zerschlagung des Habsburger Reiches im Jahre 1918 begann, ist bis heute nicht abgeschlossen. Und das Europabewusstsein, das in einer jahrzehntelangen Entwicklung das Nationalbewusstsein der Westdeutschen neutralisiert hat, steht bei den "neutralen" Österreichern erst an zweiter Stelle.

Zu diesem Schluss kommt der Historiker Matthias Pape in seiner Studie über die deutsch-österreichischen Beziehungen der letzten fünfzig Jahre. Im Wesentlichen werden hier die Ergebnisse der gesamten österreichischen und deutschen Geschichtsforschung gegenübergestellt. Dabei ist das Finale dieser Analyse keineswegs pessimistisch. Weit weg vom "Infelix Austria" oder dem viel beschworenen Haiderschen "Quarantanien", zeichnet Pape vielmehr ein Österreich, das sich im Umfeld der Osterweiterung auf eine neue Brückenfunktion zwischen Ost- und Westeuropa vorbereitet.

Ungleiche Brüder

Für Pape ist es vor allem der schwierige Prozess der Nationswerdung Österreichs, der sich belastend auf die Beziehung der ungleichen Brüder Österreich und Deutschland auswirkte. Galt doch die 1918 gegründete Erste Republik als "schwach", da Staat und Verfassung nur ein Provisorium waren, während sich die verschiedenen politischen Parteien darum stritten, ob "Deutschlandösterreich" an Deutschland angeschlossen werden sollte oder nicht.

Der vom Hitler-Deutschland 1938 erzwungene Anschluss trieb dann endgültig einen Keil zwischen die beiden Staaten. War es ein Anschluss oder eine Okkupation? Die deutsche und österreichische Geschichtsforschung sind sich heute einig: Es war wohl beides. Es gab genug österreichische Kräfte, die den Anschluss vorbereitet haben, vollzogen wurde er letztlich dann jedoch mit militärischen Mitteln.

Wie belastet das deutsch-österreichische Verhältnis dann nach Ende des Zweiten Weltkrieges war, zeigt Pape mit akribischer Präzision. Seine Arbeit enthält zum ersten Mal vollständig alle zugänglichen Dokumente aus den Jahren 1945-1965, in denen es um die Bewältigung der verschiedenen Kriegsfolgelasten geht.

Keine Rückkehr nach Deutschland

Pape versteht es immer wieder, die jeweiligen Interessen und Argumente der deutschen und der österreichischen Seite so zu präsentieren, dass der Leser sich in beide Positionen hineinversetzen kann. Dabei ist es interessant zu erfahren, dass der deutschnationale Gedanke selbst noch in den ersten Jahren der neu gegründeten Bundesrepublik weitergelebt hat. Ganz im Gegensatz zu Altbundeskanzler Konrad Adenauer, der den Willen Österreichs zur Eigenständigkeit akzeptiert hatte, gab es im christdemokratischen Milieu Politiker, die eine "Rückkehr Österreichs nach Deutschland" für möglich hielten.

Heute gehört die Anschluss-Idee der Geschichte an. Doch in Österreich brodelt es noch immer spürbar. Der EU-Beitritt Österreichs hat den Anspruch auf eine "österreichische Nation" keineswegs geschwächt. Ganz im Gegenteil. Die Österreicher stehen heute den Briten und Franzosen näher als den Deutschen. Denn wie diese erwarten sie von ihrer Regierung vor allem eines: ihre nationalen Interessen in Brüssel zu vertreten.

Anat Katharina Kalman

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