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Andrea Nahles, Vorsitzende der SPD, mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).

© Britta Pedersen/picture alliance/dpa

Update

Union und SPD nach dem Desaster: Europa war nicht die Antwort

Sprachlos, ratlos, hilflos – das Wahldebakel setzt Union und SPD mächtig zu. Am Tag danach versuchen sich beide Parteien zu sortieren - und kommen nicht weit.

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Ratlose Menschen zu treffen, ist am Montag in Berlin nicht besonders schwer. Volker Bouffier zum Beispiel ist so einer. Der CDU-Vize aus Hessen steht am Morgen vor dem Konrad-Adenauer-Haus, brummelt etwas von „tektonischen Verschiebungen“ und „sehr grundsätzlichen Fragen“ und versteht die deutsche Welt nicht mehr. Im Westen verliert die CDU die Europawahl, weil auf einmal alle nur noch übers Klima reden. "Der Osten bangt um seine Zukunft gerade wegen dieser Themen." Bouffier schüttelt den Kopf. Verloren hat seine Partei hier wie dort, genau wie die SPD, wenn auch nicht ganz so verheerend. Drüben am Willy-Brandt-Haus lächelt Spitzenkandidatin Katarina Barley jetzt in der Frühe immer noch von einer Plakatwand: "Europa ist die Antwort". Aber die Antwort der Wähler war fürchterlich.

Am frühen Nachmittag steht Andrea Nahles im Foyer der Parteizentrale. Schlecht geschlafen habe sie, berichtet die SPD-Chefin, was man ihr aber auch so ansieht: Blass ist sie, starrt über die Köpfe hinweg. Die unruhige Nacht hat ihr immerhin Zeit gegeben, Worte zu finden für das sozialdemokratische Totaldesaster: Knapp über 15 Prozent in der Europawahl, nur noch Platz drei hinter den Grünen, dazu in der letzten nationalen Hochburg Bremen nach 73 Jahren zum ersten Mal von der CDU geschlagen. "Der Ernst der Lage ist uns allen klar", sagt Nahles nach der Sitzung des Parteivorstands.

Manchen Parteifreunden war der sogar schon vorher klar. Die Parteilinken Ralf Stegner, Matthias Miersch und Kevin Kühnert bringen am Morgen ein Papier unter die Leute, das sich wie ein Vorwort zu einem Ausstieg aus der großen Koalition liest. "Politik heißt etwas wollen. Zeit für neuen Gestaltungswillen der SPD" hat das Trio darübergeschrieben, einen Katalog linker Forderungen darunter, und dann der kühle Satz: "Die meisten Punkte werden mit der Union nicht umsetzbar sein." Die SPD, schlussfolgern die drei, müsse sich "ohne Wenn und Aber" dem Ziel verschreiben, "in Zukunft ein progressives Bündnis links der Union anzuführen".

Der Satz stand dort wahrscheinlich schon vor dem Wahlsonntag. Von "Anführen" kann bei einer 15-Prozent-SPD keine Rede mehr sein. Aber die zweieinhalb Seiten sind sowieso weniger als Regierungsprogramm gedacht denn als Knebelvertrag für die Vorsitzende. "Der schlichte Ruf nach personellen Veränderungen", sagt Stegner morgens im Deutschlandfunk, der greife zu kurz. Formal versichern ohnehin viele, dass sie weiter hinter Nahles stünden. Aber aus dem ganzen Papier spricht eine stillschweigend gestellte Bedingung: "... solange sie sich an unsere Vorgaben hält". In der katastrophalen Niederlage sieht der linke Flügel die Chance gekommen, den Kurs vorzugeben.

Andere gehen die Machtfrage direkter an. "Ich beantrage eine Sondersitzung der SPD-Bundestagsfraktion zur Nachbereitung der Europawahl", heißt es in einem Schreiben des Bundestagsabgeordneten Michael Groß an den Vorsitzenden der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen in der Fraktion, Achim Post. "Nach den sehr bedauerlichen und desaströsen Ergebnissen der SPD bei den Wahlen muss klargestellt werden, ob die SPD-Bundestagsfraktion hinter ihrer Vorsitzenden steht oder nicht."

Nahles’ Antwort auf all das ließ sich zunächst in zwei Worten fassen: Tempo herauszunehmen. Am Montag soll sich der Parteivorstand wieder treffen, diesmal zur Klausurtagung. Nahles kündigt Vorschläge an, dazu „mehr klare Positionen bei den Themen“, vor allem bei Klimaschutz und Arbeit. Und schließlich soll es um die Kriterien der Halbzeitbilanz der Koalition gehen. Um sie selbst – nicht. Historische Niederlage hin oder her – so schwach war die Sozialdemokratie seit 1887 nicht mehr – weichen will sie nicht. Am Abend gibt sie sich gar kämpferisch. Mit einem Schachzug will sie ihre Macht in der SPD retten. Sie kündigt Neuwahlen zum Fraktionsvorsitz an und fordert ihre Kritiker zur Kandidatur auf. Bei der Wahl kommende Woche „sollen diejenigen sich hinstellen und sagen: Ich kandidiere“. Damit wolle sie "Klarheit schaffen".

Die CDU ist jünger, aber dafür so schwach wie noch nie. Auch für sie sind die rund 28 Prozent eine historische Niederlage. Annegret Kramp-Karrenbauer gibt das unumwunden zu: Die Volkspartei müsste jetzt zeigen, dass ihr Konzept noch tauge. Ohnehin übt die Parteichefin in wie nach der Sitzung Selbstkritik: Das schwache Ergebnis sei auch Folge eigener Fehler, räumt sie vor Präsidium und Vorstand ein. Generalsekretär Paul Ziemiak schließt sich da gleich an.

Sprachlos vor den Fridays-for-Future-Schülern

Personalfragen, berichten Teilnehmer, seien denn auch gar nicht erst gestellt worden. Der Ernst der Lage, sagt einer, der auf die neue Parteispitze durchaus kritisch sieht, sei allen bewusst. Auch die größere Volkspartei steht vor der Frage, wie es mit ihr weitergehen soll in einem Land, das politisch so massiv in Extreme gespalten ist wie noch nie: Grün dominiert im Westen und den Städten, AfD-Blau im Osten, die Alten noch halbwegs dabei, die Jungen in Massen weg. Als sie später in der Pressekonferenz nach den eigenen Fehlern gefragt wird, nennt Kramp-Karrenbauer vor allem die Reaktion auf das „Zerstörungs“-Video des Youtubers Rezo: Erst zu langsam reagiert, dann falsch, das sei nicht das richtige „Handling“ im Wahlkampf gewesen.

So kann man das sehen, als Kommunikationsversagen. Aber in Wahrheit liegt das Problem tiefer. Die CDU war schon sprachlos, als die Fridays-for-Future-Schüler auf die Straße gingen. Sie hat es sich in Angela Merkels Regierungsjahren mit dem Schlagwort der „Klimakanzlerin“ bequem gemacht und sich ansonsten darauf beschränkt, ihren Wirtschaftsflügel über die Kosten der Energiewende lamentieren zu lassen. Klimakonzept? Fehlanzeige.

Der Youtuber Rezo hat das polemisch offengelegt. Mike Mohring gibt ihm im Grunde recht. „Wir brauchen natürlich jetzt als Regierungspartei in eineinhalb Jahrzehnten eine Antwort“, schimpft der Spitzenkandidat für die Landtagswahl in Thüringen. Dort hat die AfD die CDU bei den Kommunalwahlen parallel zur Europawahl knapp nicht überholt, anders als in Sachsen und Brandenburg, aber das ist auch kein großer Trost.

Aber auf seine Antwort muss Mohring noch warten. Denn auch Kramp-Karrenbauers Motto heißt jetzt erst mal: Tempo raus. Zwar sagt sie, einerseits: „Die Ergebnisse müssen schneller kommen.“ Aber sie spannt, andererseits, den „Zeithorizont“ für die inhaltliche Neuaufstellung der Partei bis zum Parteitag 2020. Immerhin soll die schon länger geplante Vorstandsklausur am Wochenende erste Antworten auf die Frage suchen, warum die Jugend aus der Generation Youtube der CDU nicht folgen mag.

Einige dieser Antworten drängen sich derart auf, dass Kramp-Karrenbauer sie selber gibt: Beim Streit ums EU-Urheberrecht und um Upload-Filter, in der Klimapolitik, in der Reaktion auf das Rezo-Video sah die Partei schlicht alt aus. Aber die Saarländerin glaubt noch eine zweite Antwort zu kennen: Bei den Jungen habe sich der Eindruck verfestigt, dass die CDU insgesamt und die Junge Union speziell einen „Rechtsruck“ vollzogen habe. Der Gedanke stammt aus einer Schnellanalyse, die ihr Vertrauter Nico Lange vor der Sitzung an die Vorstandsmitglieder verschickt hatte. Das Papier löst Stirnrunzeln und offenen Widerspruch aus. Kramp-Karrenbauer muss drinnen wie draußen wortreich klarstellen, dass sie, nein, nein, nein, nicht der eigenen Jugendorganisation die Schuld am Wahlergebnis zuschieben wolle: „Es gibt keinen Rechtsruck der Jungen Union.“

Den Eindruck eines „vermeintlichen Rechtsrucks“ allerdings gebe es schon – mit ausgelöst durch ein Interview, in dem der neue JU-Chef Tilman Kuban von „Gleichschaltung“ der CDU unter Kanzlerin Angela Merkel gesprochen hatte, mit ausgelöst auch, sagt Kramp-Karrenbauer, durch die „WerteUnion“. Das Trüppchen konservativer CDU-Ultras lasse es an „Haltung und Arbeitsethos“ fehlen, rügt die Parteichefin: Bloß am Kurs der Partei herummäkeln, während gleichzeitig alle anderen im Wahlkampf stünden, passe nicht zur CDU.

Die konservativen Ultras sehen das anders, eher in dem Sinne, dass die aktuelle CDU nicht zur CDU ihrer Träume passe. Werte-Union-Chef Alexander Mitsch fordert denn auch einen Kurswechsel in der Einwanderungs-, Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Umweltpolitik, außerdem eine sofortige Kabinettsumbildung, bei der die Parteichefin ran müsse und außerdem Friedrich Merz. Wenn aber die Kanzlerin das alles nicht wolle – dann müsse die Union sie eben stürzen.

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