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Unruhen: Gewalt in Frankreich nimmt weiter zu

Der soziale Flächenbrand in den Vorstädten hat Frankreich in die größte Krise seit Jahren gestürzt. Doch Staatspräsident Jacques Chirac bleibt trotz der angespannten Lage seltsam abwesend.

Paris - Das Wort vom «Mai 1968 in den Vorstädten» macht die Runde. Eine «verlorene Generation» von Einwandererkindern habe den Kontakt zur Republik verloren und eine parallele Ordnung errichtet. «Die große nationale Sache ist jetzt der territoriale Zusammenhalt» samt der Auflösung der Gettos, sagt Oppositionsführer François Hollande.

Die Lage wird als so ernst eingeschätzt, dass Premierminister Dominique de Villepin und Innenminister Nicolas Sarkozy Reisen ins Ausland abgesagt und sogar ihren erbitterten «Bandenkrieg im Kabinett» eingestellt haben. Doch an der Spitze des Staates herrscht Schweigen: Präsident Jacques Chirac, der derzeit keine Gelegenheit auslässt, die EU-Kommission anzugreifen, und der seine Wahlen 1995 und 2002 mit den Themen «sozialer Bruch» und Arbeitslosigkeit gewonnen hatte, bleibt in der Krise seltsam abwesend.

Dabei droht die Lage in den Vororten von einem Polizeiproblem zu einem Problem der nationalen Sicherheit zu werden. Bisher toben sich nach allgemeiner Einschätzung vor allem unpolitische Jugendliche aus, die sich an den Rand gedrängt fühlen und ihre Gang-Reviere verteidigen. Doch je länger es währt, desto mehr mischen sich Islamisten ein. «Die Bärtigen kontrollieren ganze Quartiere», sagen Polizisten.

Ein Aufhänger war ein Tränengaseinsatz nahe einer Moschee im Unruheherd Clichy, dem viele Moscheebesucher ausgesetzt waren. «Erstmals hat ein religiöses Element zur Verbreitung der Gewalt beigetragen», sagt Polizeikommissarin Lucienne Bui Trong. «Wenn städtische Gewalt und Islamisierung der Vorstädte zusammenfließen, dann wird das sehr gefährlich.» Viele Islamisten schüren allerdings nicht die Gewalt, sondern wirken mäßigend auf die Randalierer ein - und gewinnen dabei weitere Anhänger.

Auch ohne die religiöse Komponente verstärken die Krawalle die Trennung der Volksgruppen und zerstören die Illusion der Gleichheit aller Franzosen jeglicher Herkunft. Künftig werde man mit einem arabischen Namen und einer Adresse in einem Problemviertel noch schwerer Arbeit finden, warnen Sozialarbeiter. Und wer will dort Arbeitsplätze schaffen? Die gefährliche Spirale - Arbeitslosigkeit, Zerfall der Familien, Schulversagen, Gefühl der Ausgrenzung, Gewalt, Arbeitslosigkeit - dreht sich weiter.

Villepin will das Übel an der Wurzel packen und ein längst beschlossenes Milliardenprogramm für die Entwicklung der Sozialsiedlungen beschleunigen und aufwerten. Er spricht dazu mit Vertretern der Muslime, Verbände, Gewerkschaften und Polizei. Doch solche Programme gibt es schon seit einem Vierteljahrhundert, ohne dass sie grundsätzlich etwas bewirkt haben.

Während Regierung und linke Opposition noch über solche Hilfen nachsinnen, plädiert der Nationalistenführer Philippe de Villiers für den Einsatz der Armee. Jean-Marie Le Pen, der bei der Wahl 2002 bis in die Stichwahl gegen Chirac gekommen war, fordert sogar die Verhängung des Ausnahmezustandes und Hausarrest für Risikogruppen. Doch das wird in Paris ebenso wenig Ernst genommen wie das Angebot des libyschen Revolutionsführers Muammar el Gaddafi, Chirac gegen die Unruhen zu helfen. Denn trotz spektakulärer Fernsehbilder von brennenden Gebäuden beschränken sich die Ausschreitungen auf kleine Zonen. «Und die Identitätskrise einer Bevölkerungsgruppe kann man nicht mit Gewalt lösen», sagt ein Regierungsmitarbeiter. (Von Hans-Hermann Nikolei, dpa)

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