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Politik: Unterschätzte Macht

Straßburg entscheidet bei 80 Prozent aller EU-Gesetze mit – davon profitieren vor allem die Verbraucher

Vorurteile halten sich hartnäckig, auch wenn die Wirklichkeit sie längst widerlegt hat. Das erklärt vielleicht, warum so viele Wähler in Europa nicht recht wissen, ob sie zwischen dem 10. und 13.Juni ihre Stimme abgeben sollen. Hat das Europaparlament denn eine politische Bedeutung? Meinen nicht viele, die es wissen müssten, es sei immer noch ein machtloser Debattierclub? Ist es nicht egal, wer im Juli in das neue Straßburger Parlament einziehen wird, das nach der Osterweiterung ohnehin immer unübersichtlicher werden wird?

Tatsächlich aber sind die Zeiten vorbei, in denen Europas Volksvertreter in Straßburg nichts zu sagen hatten. Allein bei mehr als 70 Prozent der Wirtschaftsgesetze, so rechnen EU-Experten vor, fallen inzwischen die Entscheidungen in Brüssel und in Straßburg. In Berlin wird das Beschlossene nur noch in nationales Recht umgesetzt. Erst als Europas Volksvertreter vor fünf Jahren das Missmanagement in der EU-Kommission anprangerten und deren damaligen Präsidenten Jacques Santer zusammen mit seinen Kommissaren zum Rücktritt zwangen, dämmerte vielen, dass die Kontrollrechte der Abgeordneten nicht nur auf dem Papier stehen.

Vor allem der Haushaltskontrollausschuss des Straßburger Parlaments und seine kompetente und hartnäckige Vorsitzende, die baden-württembergische Europaabgeordnete Diemut Theato (CDU), lehrten in den vergangenen Jahren die Brüsseler Bürokratie das Fürchten. Sie deckten Schlampereien bei „Eurostat“ auf, dem Luxemburger Statistikamt der EU. Die gesamte Führung von Eurostat wurde anschließend beurlaubt.

Den entscheidenden Machtzuwachs brachte aber im Jahr 1999 der Amsterdamer EU-Vertrag. Er stellte im Gesetzgebungsprozess zwischen Europaparlament und dem Ministerrat der Regierungen so etwas wie Waffengleichheit her. In der EU kommen zahlreiche Gesetze im Vermittlungsverfahren zwischen dem Ministerrat, also der Vertretung der Mitgliedstaaten, und dem Europaparlament zu Stande. Inzwischen können 80 Prozent der europäischen Gesetze nur verabschiedet werden, wenn das EU-Parlament zustimmt. Mit anderen Worten: Ohne das Parlament läuft in der europäischen Politik nichts mehr.

Die Kommission hat allerdings nach wie vor das Initiativrecht. Sie legt den Gesetzesvorschlag vor, der dann vom Parlament und vom Ministerrat beraten wird. Will das Parlament seinen Einfluss nutzen, muss es kompromissfähig sein – und über Parteigrenzen hinweg eine absolute Mehrheit finden.

Da sich das Parlament vor allem als Anwalt der Bürger, der Verbraucher, versteht, hat es sich hier besonders engagiert eingesetzt. Mit Erfolg: Es ist ihm zum Beispiel gelungen, die Vorschriften für die Etikettierung gentechnisch veränderter Lebensmittel zu verschärfen und die Haftung von Unternehmen für Umweltschäden durchzusetzen.

Die europäische Verfassung, um die Europas Regierungen gegenwärtig ringen, wird die Macht des Europaparlaments weiter stärken. Es soll dann auch auf klassischen innenpolitischen Politikfeldern, wie der Zusammenarbeit von Polizei und Justiz und der Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik, Einfluss bekommen.

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