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Ursula von der Leyen ist seit 2009 Arbeitsministerin, davor war sie vier Jahre lang Familienministerin

© dapd

Ursula von der Leyen: "Ich will keinen zentralistischen Superstaat"

Arbeitsministerin Ursula von der Leyen über Wege aus Europas Schuldenkrise, Gefahren für das europäische Sozialmodell und die Zukunft der Mindestlöhne.

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Frau Ministerin, wünschen Sie sich manchmal Vizekanzler Guido Westerwelle zurück?

Der Vizekanzler ist Philipp Rösler. Ich kenne ihn jetzt seit acht Jahren aus Niedersachsen und weiß, dass er gut ist und einen langen Atem hat.

Westerwelle hat zwar die Nerven der CDU-Kabinettsmitglieder manchmal strapaziert. Aber nie hat er sie so entsetzt wie Philipp Rösler, der leichtfertig einer Insolvenz Griechenlands das Wort redete. Waren Sie darüber nicht erschrocken?

Ich vermute, wenn Philipp Rösler zurückschaut, würde er in der Euro-Debatte etwas anders gemacht haben. Aber das ist vergossene Milch, wir sollten den Blick nach vorne richten. Die FDP-Spitze hat nun klar gemacht, dass sie ungebrochen zu Europa steht.

Wir sind beim Verhältnis der Koalitionspartner. Was ist eigentlich in zwei Jahren aus der einstigen schwarz-gelben Traumhochzeit geworden?

Um im Bild zu bleiben: Jede Ehe kommt auch in eine Phase, in der die Partner lernen müssen, mit Schwierigkeiten umzugehen …

Denken Sie schon an Scheidung?

Nein. Aber es geht ja in der Euro-Krise um mehr als nur um Wasserstände des Verhältnisses von Union und Liberalen. Die letzten Wochen haben uns noch einmal in aller Deutlichkeit gezeigt, wie groß die Verantwortung ist. Europa verdient, dass Deutschland konsequent für die Zukunft der Europäischen Union und des Euro einsteht. Dieser Verantwortung sind sich die Koalitionspartner bewusst, das schweißt zusammen.

Vermissen Sie in der deutschen Debatte über den Euro Leidenschaft für Europa?

Wir brauchen Leidenschaft für Europa, und ich bin überzeugt, dass wir diese Leidenschaft wecken können. So bitter und schwer diese Krise auch ist, so hat sie doch die wichtige Frage auf die Tagesordnung gehoben, wohin sich unser gemeinsames Europa entwickeln soll. Über viele Jahre hat danach kaum jemand gefragt. Nun, da Europa in seiner Existenz gefährdet ist, hat unser Land die Chance, voranzugehen. Wir sind entschlossen, für dieses Europa zu kämpfen.

Weiter auf Seite zwei: Das europäische Sozialmodell stehe auf dem Spiel, sagt von der Leyen.

Reicht die historische Begründung des Projekts Europa noch aus?

Dass Europa gerade den Deutschen dauerhaften Frieden und Wohlstand gebracht hat, sollten wir nie vergessen. Aber wir müssen nun auch sehr deutlich machen: Wenn der Euro scheitert und mit ihm Europa, dann steht auch unser europäisches Sozialmodell auf dem Spiel. Es könnte ersetzt werden durch sehr viel niedrigere Standards, wie sie heute etwa in Asien herrschen. Dass wir als einzelnes Land im globalen Wettbewerb sicherer dastehen, ist eine Illusion. Wir müssen den Menschen in Deutschland deutlich machen, dass die sozialen Standards in Europa für sie auch Sicherheit und Heimat darstellen, die massiv bedroht sind.

Warum scheitert der europäische Sozialstaat, wenn der Euro scheitert?

Weil jedes Land dann seine eigenen Interessen verfolgt, sich Bündnispartner auf anderen Kontinenten sucht, etwa in den USA, in Lateinamerika oder in Asien. Die ehemaligen EU-Länder unterbieten sich gegenseitig bei den Löhnen sowie bei Sozial- und Umweltstandards, um Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Dass das Szenario realistisch ist, sehen Sie an der heutigen Debatte über unterschiedliche Steuern für Unternehmen und Finanzgeschäfte. Solche Tendenzen würden sich verschärfen.

Warum können Sozialstandards ohne Euro nicht erhalten bleiben?

Weil damit auch der EU-Binnenmarkt infrage steht. 40 Prozent des deutschen Exports gehen in die Euro-Zone, damit verdienen wir 500 Milliarden Euro. Neun Millionen Arbeitsplätze hängen daran. Ohne gemeinsame Währung könnten deutsche Produkte für die anderen zu teuer werden. Wegen solcher Probleme bindet sich die Schweiz gerade stärker an den Euro. Europa ist eine enorm wichtige ökonomische und soziale Basis für uns. Wenn wir im globalen Wettbewerb zersplittert auftreten, verlieren wir politische Handlungsfähigkeit nach außen.

Wie wollen Sie künftige Schuldenkrisen verhindern?

Die Verschuldensexzesse der letzten zehn Jahre in Europa werden uns etwas kosten. Aber wir können stärker aus der Krise kommen, indem wir in Richtung Vereinigtes Europa gehen. Wir brauchen neben der Währungsunion eine auf europäischer Ebene verankerte Haushaltsdisziplin. Ohne automatische Sanktionen auf die lange Sicht funktioniert das nicht. Wir müssen sicherstellen, dass ein bestimmter Grad an Verschuldung nicht überschritten wird. Damit stellen wir auch das Vertrauen der Finanzmärkte und Investoren in Europa wieder her.

Das Grundgesetz steckt enge Grenzen für eine weitere Integration, auch für die Abgabe von Haushaltsrechten. Müssen wir das Grundgesetz ändern oder durch eine neue Verfassung ersetzen, um den europäischen Fortschritt zu ermöglichen?

Erst müssen wir uns auf das politische Ziel einigen, bevor wir uns mit den Mitteln beschäftigen, wie wir es erreichen.

CSU-Chef Horst Seehofer sagt klipp und klar, mit ihm seien die „Vereinigten Staaten von Europa“ nicht zu machen, die Sie ins Spiel gebracht haben. Wie soll die Union da eine gemeinsame Haltung finden?

Auch ich will keinen zentralistischen Superstaat Europa. Nach meiner Vorstellung soll Europa in seiner Vielfalt von regionalen Besonderheiten erhalten werden. Jedes Land und jede Region kann mit seinem Haushalt eigenverantwortlich machen, was es machen will. Ein zentraler europäischer Akteur muss aber dann eingreifen, wenn sich ein Mitgliedsland nicht an die gemeinsamen Regeln hält.

Lesen Sie auf Seite drei: "Mindestlöhne werden ohnehin kommen."

Kommen wir zu Ihrem Ressort. Wie sieht Ihre Bilanz nach zwei Jahren als Arbeitsministerin aus?

Die Arbeitslosigkeit ist unter drei Millionen gesunken, wir haben die höchste Erwerbstätigkeit seit der Wiedervereinigung. Außerdem haben wir die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit in den letzten fünf Jahren halbiert.

Im EU-Vergleich ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen in Deutschland mit knapp 50 Prozent aber immer noch hoch. Sogar Spanien steht besser da. Woran liegt das?

Die Zahlen sind nicht besonders aussagekräftig. In Deutschland ist die Zahl der Menschen, die nur kurze Zeit arbeitslos sind, rapide gesunken. Dadurch fällt der Anteil der Langzeitarbeitslosen, die in allen Ländern der Welt später von Aufschwungphasen profitieren, natürlich höher aus. Tatsache ist, dass viele europäische Nachbarn uns um die geringe Arbeitslosigkeit beneiden – nicht zuletzt bei den Jugendlichen.

Um Langzeitarbeitslose muss man sich besonders intensiv kümmern, damit sie einen Job finden. War es ein Fehler, dass Sie im Rahmen des Sparpakets so bereitwillig Kürzungen in Ihrem Etat hingenommen haben?

Wenn die Arbeitslosigkeit so rapide sinkt, muss man auch die Mittel für die Arbeitsmarktpolitik kürzen. Wir haben außerdem bewusst entschieden, dass wir die künstlichen Jobs in der öffentlich geförderten Beschäftigung zurückfahren wollen. Die Menschen, die in solchen Programmen sind, haben oft geringere Chancen, wieder einen Job im ersten Arbeitsmarkt zu finden, weil sie nicht mehr aktiv suchen. Dabei haben sie jetzt Chancen wie selten zuvor.

Viele Unternehmen suchen händeringend nach Fachkräften. Ist es realistisch, dass Sie Arbeitslose zu Fachkräften weiterbilden wollen?

Natürlich kann ich einen Arbeitslosen ohne Berufsausbildung nicht zum Ingenieur machen. Aber ich kann den Pflegehelfer zur Pflegefachkraft qualifizieren. Deshalb investieren wir in der Arbeitsmarktpolitik massiv in Weiterbildung und in die Förderung Jugendlicher. Da lohnt sich der intensive Einsatz, denn es geht um die Frage: Schaffen die Jugendlichen den Anschluss oder landen sie in der Hartz-IV-Schiene?

Überfordern Sie mit der Forderung nach einem flächendeckenden Mindestlohn für Deutschland nicht Ihre Partei, die CDU?

Ich streite nicht darüber, ob wir Mindestlöhne brauchen. Das wird ohnehin kommen. Jetzt geht es darum, wie wir das machen. Ich trete für marktwirtschaftlich organisierte Mindestlöhne ein. Das heißt: Arbeitgeber und Gewerkschaften handeln sie aus, nicht die Politik gibt sie vor. Es kann nicht sein, dass jemand Vollzeit arbeitet und davon nicht leben kann. Deshalb fordern inzwischen auch viele Arbeitgeber einen Mindestlohn. Mit den zehn Branchenmindestlöhnen haben wir in Deutschland gute Erfahrungen gemacht. Jetzt geht es um die anderen Branchen, insbesondere auch um jene, in denen es schwache Gewerkschaften und schwache Arbeitgeberverbände gibt.

Wird das Bekenntnis zu einem Mindestlohn die nächste ideologische Kehrtwende der CDU?

Bisher sind alle Mindestlöhne in Deutschland unter CDU-Kanzlern eingeführt worden. Ich wüsste nicht, wo da die Kehrtwende sein soll.

Das Interview führten Cordula Eubel und Hans Monath.

Zur Person: Ursula von der Leyen

EUROPÄERIN

Ursula von der Leyen wurde 1958 in Brüssel geboren, wo sie mehr als zehn Jahre lebte. Ihr Vater Ernst Albrecht, der spätere niedersächsische Ministerpräsident, war hoher Beamter in den Vorgängerorganisationen der EU.

MINISTERIN

Die Mutter von sieben Kindern kam erst vor sechs Jahren in die Bundespolitik. Nach vier Jahren an der Spitze des Familienministeriums wurde sie 2009 Arbeitsministerin.

KOMMISSARIN

Die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende ist Mitglied der Kommission, die für den Parteitag Mitte November den Leitantrag zum Thema Europa vorbereitet.

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