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Urteil zu Hartz IV: Im Namen der Kinder

Die Hartz-IV-Sätze verstoßen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gegen das Grundgesetz. Was folgt daraus?

Die größte Sozialreform der Bundesrepublik muss bis Jahresende überarbeitet werden. Ob die 6,5 Millionen Langzeitarbeitslosen und ihre Familienangehörigen aber künftig mehr Geld bekommen sollten, ließen die Karlsruher Richter bei ihrer Entscheidung am Dienstag offen.

Wie hoch sind die Regelsätze derzeit?

Seit 2005 gibt es eine einheitliche Grundsicherung für Erwerbsfähige und ihre Angehörigen, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenfasst (Hartz IV). Erwachsene Hilfebedürftige erhalten Arbeitslosengeld II, Kinder ein nach Alter gestaffeltes Sozialgeld. Der Satz liegt für Alleinstehende derzeit bei 359 Euro, Lebenspartner in Bedarfsgemeinschaft bekommen 90 Prozent. Für Kinder unter sechs Jahren gibt es 60 Prozent des Regelsatzes (215 Euro), bis zum 15. Geburtstag steigt der Satz auf 70 Prozent (251 Euro), danach noch einmal um zehn Prozent (287 Euro). Anders als bei der früheren Sozialhilfe sind die Sätze pauschaliert; Beihilfen darüber hinaus gibt es nur in Ausnahmen. Der Satz soll hoch genug sein, um benötigte Mittel selbst ansparen zu können.

Wie wird der Regelsatz berechnet?

Basis ist die Einkommens- und Verbrauchsstatistik, die alle fünf Jahre erhoben wird. Darin werden Einpersonenhaushalte erfasst und nach Nettoeinkommen geschichtet. Referenzgruppe für die Hartz-IV-Sätze sind die unteren 20 Prozent. Ihre Ausgaben werden nach Positionen gegliedert. Für die Hartz-Rechnung nimmt man Abschläge vor, etwa 15 Prozent Kürzung für Stromkosten. Die Statistiker koppeln diese Datenbasis an die Entwicklung des Rentenwerts.

Was kritisieren die Richter?

Zumindest nicht die konkrete Höhe. Die Richter betonten den Gestaltungsspielraum der Politik, gerade bei Erhebungen zum soziokulturellen Anteil des Existenzminimums, wenn physische Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Kleidung gesichert sind. Andererseits heißt es im Grundgesetz: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Daraus wird in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie in Artikel eins ein Anspruch des Einzelnen auf existenzielle Mindeststandards gefolgert. Das Verfassungsgericht behält sich daher vor zu kontrollieren, wie diese Standards festgelegt werden. Bei Hartz IV fehle es aber an „verlässlichen Zahlen und schlüssigen Berechnungsverfahren“, erklärten die Richter. Die Orientierung am Rentenwert knüpfe zudem an die Entwicklung der Bruttolöhne, den Beitragssatz für die Rentenversicherung und den Nachhaltigkeitsfaktor an – alles Faktoren, die mit dem Existenzminimum nichts zu tun hätten.


Was fordern die Richter?

Das Modell des Arbeitsministeriums ist nach Auffassung der Richter grundsätzlich geeignet und nah genug am Leben, um passende Sätze zu ermitteln. Es kann auch bei pauschalen Kürzungen bleiben. Nötig sei aber eine „wertende Entscheidung“, die sachgerecht und vertretbar sei. Schätzungen ins Blaue hinein seien untersagt. Abschläge müssten begründet werden, genau wie die Posten, die in die Rechnung aufgenommen werden. Die Basis-Statistik enthalte zwar Posten für Maßkleidung und Pelze, aber es stehe überhaupt nicht fest, ob Bezieher unterer Einkommen tatsächlich dafür Geld ausgäben. Ausgaben für Bildung würden dagegen als Posten ohne Begründung außen vor gelassen.

Was bedeutet das Urteil für Kinder?

Zum einen ist das Sozialgeld verfassungswidrig, weil es auf dem fehlerhaften Erwachsenenregelsatz beruht. Dazu kommt, dass der Gesetzgeber „jegliche Ermittlungen zum spezifischen Bedarf eines Kindes unterlassen hat“. Die Kosten für Schulbücher, Taschenrechner und dergleichen blieben unberücksichtigt, obwohl solche Dinge zum existenziellen Bedarf eines Kindes gehörten. Kindern drohe sonst der Ausschluss von Lebenschancen. Die 2009 eingeführte jährliche Einmalzahlung von 100 Euro für Schulbedarf genüge dem nicht und der Betrag sei „offensichtlich freihändig geschätzt“.

Was kostet ein Kind?

Ein Kind großzuziehen, kostet ungefähr so viel wie ein Mercedes der Luxus-S- Klasse mit Sonderausstattung. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2006 geben Eltern mehr als 120 000 Euro aus, um ein Kind bis zum 18. Lebensjahr zu ernähren, anzuziehen, zu unterhalten und auszubilden. Grundsätzlich gilt: Mit steigendem Einkommen der Eltern steigen die Ausgaben. Zudem werden Kinder stetig teurer: Laut Statistik zahlen Eltern für Kinder unter sechs Jahren rund 426 Euro im Monat, für Kinder unter zwölf 500 und für unter 18-Jährige 625 Euro. All dies liegt deutlich über den aktuellen Hartz-IV-Sätzen, die aber auch nur den Bedarf eines Kindes decken sollen.

Was muss der Gesetzgeber jetzt tun?

Die bisherigen Regeln bleiben anwendbar, auch wenn sie verfassungswidrig sind. Nachzahlungen gibt es keine, weil das Verfassungsgericht die Höhe der Sätze unbeanstandet ließ. Bis zum 31. Dezember müssen die Regelungen aber angepasst werden. Dazu kann die Einkommens- und Verbrauchsstatistik von 2008 dienen, die das Statistische Bundesamt im Herbst vorlegt. Künftig muss es eine Härtefallklausel geben, etwa bei außergewöhnlichen Fahrtkosten oder Krankheitsfolgen.

Werden die Regelsätze nun erhöht?

Die Bundesregierung lässt offen, ob Hartz-IV-Empfänger ab 2011 mehr Geld bekommen. Das Urteil verlange eine transparente Berechnung, heißt es im Finanzministerium. Dies könne, müsse aber nicht mit höheren Regelsätzen verbunden sein. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sprach in Karlsruhe von einem „bahnbrechenden Urteil“, entzog sich aber der Nachfrage, ob in ihrem Sozialetat künftig mehr Geld für Hartz-IV- Bezieher veranschlagt wird.

Die Leistungen für Kinder und Jugendliche könnten angehoben werden. Hier war die Kritik der Richter am deutlichsten – und der politische Druck ist groß. „Bei Kindern und Jugendlichen werden wir drauflegen müssen“, kündigt etwa CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich an. Ob jedoch alle der rund 1,7 Millionen Kinder, die auf Hartz IV angewiesen sind, profitieren werden oder nur bestimmte Altersgruppen, ist offen. Aus politischen Gründen ausgeschlossen dürfte sein, die Regelsätze für eine Personengruppe zu kürzen. Denkbar ist, dass die Politik mehr Sachleistungen finanziert – für den Schulbedarf hält von der Leyen dies für vorstellbar.

Sollten die Regelsätze steigen, wird es künftig aber auch mehr Menschen geben, die mit ihren Arbeitseinkommen unterhalb der Grundsicherung liegen. Das bedeutet: Der Anreiz, überhaupt einen Job anzunehmen, würde sinken. Oder, wie Ökonomen es formulieren, das „Lohnabstandsgebot“ wäre nicht mehr gewahrt. Welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, ist jedoch umstritten. SPD, Grüne und Linke sehen sich in ihrer Forderung nach einem flächendeckenden Mindestlohn bestätigt. Der CDU-Mittelstandspolitiker Josef Schlarmann hingegen will den Arbeitsanreiz auf anderem Wege erhöhen: Der Gesetzgeber müsse prüfen, ob die Regelleistungen bei Hartz IV gekürzt werden könnten bei gleichzeitiger Erhöhung der Hinzuverdienstmöglichkeiten.


Was bedeutet das für den Bundeshaushalt?

Der Bund wird künftig wohl mehr Geld für Hartz IV ausgeben müssen. Schon 2010 werden die Ausgaben für das Arbeitslosengeld II höher ausfallen als bisher geplant. Ab sofort können Hartz-IV- Empfänger einen besonderen Bedarf geltend machen – etwa für Medikamente, wenn sie chronisch krank sind. 2009 gab der Bund etwa 36 Milliarden Euro für Hartz IV aus. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast bezifferte die zusätzlichen Kosten durch die Neuberechnung auf zehn Milliarden Euro. Die kämen allerdings nur dann zustande, wenn die Regierung die Sätze auf 420 Euro im Monat für Erwachsene und zwischen 280 und 360 Euro für Kinder erhöhen würde. So viel Geld wird Schwarz- Gelb aber nicht ausgeben wollen.

Was wird aus Gerichtsverfahren zu Hartz IV?

Aktuell sind knapp 194 000 Prozesse anhängig. Verfahren, die den Regelsatz zum Gegenstand haben, können nun weitergeführt werden, da die Regeln bis Jahresende fortgelten. Gerichts- und Anwaltskosten sollten jedoch mit Rücksicht auf das Urteil nicht allein den Klägern aufgebürdet werden, schrieben die Richter.

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