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Joe Biden - wäre er ein guter Präsident?

© Carolyn Kaster/AP/dpa

Joe Bidens Fähigkeiten werden unterschätzt: Nach vier Jahren Spaltung wieder ein Brückenbauer

Wer gegen Trump antritt, ist zweitrangig? Falsch gedacht! Joe Biden ist genau der richtige Kandidat für den Posten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Juliane Schäuble

Am 3. November geht es nur um einen Mann: um Donald Trump. Wer gegen ihn antritt, ist zweitrangig. Diese Lesart der amerikanischen Präsidentschaftswahl ist weit verbreitet, und angesichts des Chaos und des Dauererregungszustands, in den Trump sein Land versetzt hat, kann man das auch so sehen.

Entweder hat eine Mehrheit der Amerikaner von Trump genug hat und will ihn loswerden, oder es kommt anders, und er wird noch mal gewählt.

Doch diese Lesart unterschätzt die Rolle, die Joe Biden spielt. Dass der 77-jährige ehemalige Vizepräsident, seit Jahrzehnten in der Politik und von vielen respektiert, der Kandidat der Demokratischen Partei geworden ist, war kein Zufall. Die Entscheidung für ihn war die bewusste Entscheidung für einen erfahrenen Brückenbauer: für jemanden, auf den sich – innerhalb der sehr heterogenen Partei, aber auch darüber hinaus – möglichst viele Wähler verständigen können.

Und auch für jemanden, der eine Brücke zur nächsten politischen Generation bauen kann. Weil er in der Lage ist, dem erschöpften Land eine dringend benötigte Atempause zu verschaffen.

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Wie groß der Kontrast zwischen dem hyperaktiven Donald Trump und dem ernsthaft, oft unspektakulär auftretenden Joe Biden ist, können die Amerikaner an diesem Donnerstag beim letzten TV-Duell erleben.

Vor allem, wenn Biden so gelassen bleibt wie bei den zeitgleich stattfindenden TV-„Town Halls“ der beiden in der vergangenen Woche. Wer die Sender wechselte, wechselte zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen krawalligem Spektakel und manchmal dröger Sachpolitik.

Bidens vielleicht größte Fähigkeit: Er kann zuhören

Die Sehnsucht nach Letzterem, das ist das „Verdienst“ Trumps, ist in den vergangenen vier Jahren bei vielen exponentiell gewachsen. Die Vorstellung, auf den „Disruptor in Chief“ würde ein nächster Revolutionär folgen, klang schon vor Corona überambitioniert.

Angesichts der Pandemie ist der Wunsch nach Normalität, nach Konzentration aufs Wesentliche, noch viel größer geworden. Dafür ist Joe Biden der geeignete Kandidat: trotz seines Alters und seiner überschaubaren rhetorischen Finesse.

Seine vielleicht größte Fähigkeit liegt darin, dass er zuhören kann. Und dass er es schafft, die Besten um sich zu versammeln. Nicht jeder Anführer erträgt gute Leute in seiner Nähe, die ihn möglicherweise in den Schatten stellen könnten.

Joe Biden scheut dieses Risiko nicht, im Gegenteil: Er nutzt es zu seinem Vorteil. Dass sein einstiger Chef Barack Obama am Mittwoch für ihn in den Ring steigen sollte, zeigt dies deutlich.

Genauso wie die kluge Entscheidung für Kamala Harris als Vizepräsidentschaftskandidatin. Und dass Bernie Sanders inzwischen engagiert bei den Parteilinken für ihn trommelt, belegt ebenfalls, dass Bidens Nominierung eine gute Wahl war: Die Partei war lange nicht so geeint. Das war nicht selbstverständlich. Daran sollte man heute ab und an erinnern.

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Was Biden, so er denn in zwölf Tagen gewinnen sollte, mit diesem Rückhalt anfangen kann, wird sich erst noch zeigen. Auch, wie konstruktiv sich eine möglicherweise gedemütigte Republikanische Partei verhalten wird. Aber ein Kabinett, in dem Erfahrung und Zukunftsvisionen genauso wie eine große Bandbreite politischer Positionen zu finden wären, ist eine spannende Vorstellung.

Fast ausgehen kann man auch davon, dass Biden versuchen würde, einen moderaten Republikaner einzubinden.

Sein Anspruch, das Land wieder zusammenzubringen, ist mehr als eine rhetorische Floskel. Genauso wie das Versprechen, dass Anstand und Moral wieder Leitlinien politischen Handelns werden sollen. Eine Frage, die viele sich dieser Tage stellen, ist allerdings, ob das Land überhaupt zusammengebracht werden will.

Die Lagerbildung und die Sprachlosigkeit zwischen beiden Seiten sind gigantisch. Auch Joe Biden kann daran scheitern. Aber mit ihm steht ein Kandidat zur Wahl, der das Brückenbauen zur obersten Maxime erhoben hat. Nach vier Jahren Spaltung hat Amerika zumindest die Chance, es künftig anders zu machen.

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