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Politik: Verbreitetes Unbehagen

SPD-Chef Kurt Beck warnte vor dem Missbrauch von Hartz IV – jetzt wird der Kritiker selbst kritisiert

Berlin - Für führende Sozialdemokraten können Klagen über mangelnden Anstand schnell unangenehm werden – vor allem dann, wenn sich die Kritik nicht auf Unternehmer, sondern auf die Empfänger staatlicher Leistungen bezieht. Als Gerhard Schröder den Deutschen im September 2004 eine „Mitnahmementalität bis in die Mittelschichten hinein“ attestierte, die auf Dauer zum Zusammenbruch des Sozialstaates führen werde, brach ein Sturm der Entrüstung los, auch in Schröders eigener Partei. Ein Jahr später verlor der Hartz-IV-Kanzler die vorgezogene Bundestagswahl.

Jetzt hat mit SPD-Chef Kurt Beck wieder ein Spitzengenosse Worte der Kritik riskiert. Gemessen an Schröder, der Mentalitäten erklärtermaßen „brechen“ wollte, fielen die Mahnungen des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten allerdings milde aus. „Es gibt Dinge, die macht man nicht“, sagte er der „Welt“ und führte als Beispiel langzeiturlaubende Hartz-IV-Empfänger an, die sich vom Staat Geld überweisen ließen, ohne dem Arbeitsmarkt wirklich zur Verfügung zu stehen. Oder jugendliche Hartz-IV-Empfänger, die in die Einliegerwohnung der Eltern zögen, um als Bedarfsgemeinschaft nach dem Abitur Leistungen einzustreichen. Oder gut Verdienende, die Bafög für ihre Kinder beantragten. Becks Fazit: „Man muss nicht alles rausholen, was geht.“

Damit dürfte Landesvater Beck ziemlich genau „die Mehrheitsmeinung am Stammtisch wiedergegeben“ haben, wie es in Parteikreisen hieß – nicht aber die der Opposition und die des linken SPD-Flügels. So erklärte Grünen-Fraktionsvize Thea Dückert, es sei „unanständig von Beck, gesetzestreue Arbeitslose zum Verzicht auf rechtmäßig zustehende Leistungen aufzufordern“. Die Vizevorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, sprach gar von einer „Diffamierungskampagne“ gegen Langzeitarbeitslose und mutmaßte, Beck wolle die SPD-Klientel „auf weiteren Sozialabbau einschwören“.

In der SPD rief die Moralpredigt zunächst nur die Jungsozialisten und den Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, Ottmar Schreiner, auf den Plan. „Einzelne Missbrauchsfälle werden herangezogen, um so Kürzungen der Leistungen zu rechtfertigen. Das ist schlechter Stil, weil damit pauschal alle Arbeitslosen verunglimpft werden“, kritisierte Juso-Chef Björn Böhning. Auch müsse Beck „Beweise dafür liefern, dass die von ihm genannten Fälle der Wirklichkeit entsprechen“. Schreiner hielt Beck vor, den „übergroßen Teil der Leistungsberechtigten“ nicht vor dem Missbrauchsvorwurf in Schutz genommen zu haben: „Das sind Leute, die ohne eigenes Verschulden arbeitslos geworden sind und die jetzt mit dem Arbeitslosengeld II hart am Rande des Existenzminimums leben müssen.“

Gefährlich für Beck sind weniger die Vorwürfe der SPD-Arbeitnehmer und der Jusos als das in Teilen der Bundestagsfraktion verbreitete Unbehagen über die von der Bundesregierung beschlossenen Einschnitte und verschärften Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger. Etliche Abgeordnete stimmten dem so genannten Fortentwicklungsgesetz von Arbeitsminister Franz Müntefering vergangene Woche im Bundestag nur widerwillig zu. „Die SPD hat damit weitaus mehr zu kämpfen, als das von der Öffentlichkeit bisher wahrgenommen wurde“, sagt ein führender Sozialdemokrat.

Ermahnungen an die Betroffenen machen sich vor diesem Hintergrund schlecht, allzumal der SPD bei den Verhandlungen mit der Union über die Gesundheitsreform weitere schmerzhafte Kompromisse abverlangt werden könnten. Und so schob Beck im Laufe des Donnerstags klärende Worte nach: Seine Äußerungen seien verkürzt wiedergegeben worden, seine Kritik habe nicht den Bedürftigen, sondern dem schlechten Beispiel mancher Bestverdiener gegolten.

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