zum Hauptinhalt

Politik: Versöhnung mit den älteren Brüdern - Johannes Paul II. beklagt die "Tragödie der Juden"

Die ältere Frau redet und weint, wischt sich die Augen. Begütigend streichelt Johannes Paul II.

Die ältere Frau redet und weint, wischt sich die Augen. Begütigend streichelt Johannes Paul II. ihren Arm, schaut sie an, hört ihr zu. Edith Tzirer - als 14-Jährige fand sie der junge Priester Karol Wojtyla 1945 apathisch am Zaun des zuvor befreiten Arbeitslagers Skarzysko-Kamienna liegen. Er kümmerte sich um sie, gab ihr ein Stück Brot und etwas Tee, dann schleppte er das vollkommen entkräftete Mädchen kurzerhand auf dem Rücken drei Kilometer bis zur nächsten Bahnstation. Jetzt steht sie vor ihren damaligen Retter und ist überwältigt von ihren Gefühlen. 1951 emigrierte sie schließlich nach Israel. Zusammen mit sechs weiteren Überlebenden des Holocaust sitzt sie auf den Ehrenplätzen in der Halle der Erinnerung von Yad Vaschem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem.

Jeden einzelnen begrüßt der Papst persönlich während dieser historischen christlich-jüdischen Feierstunde in dem fensterlosen, zeltförmigen Raum. Die Wände sind aus groben Steinblöcken gemauert. Neben einer erhöhten Grabplatte, unter der die Asche von Opfern des Holocaust liegt, brennt eine ewige Flamme. In den Fußboden sind die Namen der Konzentrationslager in Erz gegossen.

"Als Bischof von Rom und Nachfolger des Apostels Petrus versichere ich dem jüdischen Volk, dass die katholische Kirche zutiefst den Hass, Verfolgung und Antisemitismus betrauert, den Christen Juden angetan haben, egal zu welcher Zeit und an welchem Ort", sagt der Papst bei seiner in Israel und bei den Juden in aller Welt mit großer Spannung erwarteten Rede. Er sei hierher gekommen, um den Millionen ermordeten Juden die letzte Ehre zu erweisen. Nichts von dem habe er vergessen, was während der Nazizeit im von den Deutschen besetzten Polen passiert sei, betont das Kirchenoberhaupt. "Ich erinnere mich an meine jüdischen Freunde und Nachbarn, viele von ihnen wurden ermordet, während andere überlebten."

Für die religiöse Aussöhnung zwischen Kirche und Judentum konnte es kaum eine eindringlichere Geste geben, als diesen erste Besuch eines katholischen Oberhauptes in der Holocaust-Gedenkstätte auf israelischem Boden. "Lasst uns eine neue Zukunft bauen, in der es keine anti-jüdischen Ressentiments unter Christen und keine anti-christlichen Ressentiments unter Juden mehr gibt, sondern nur noch gegenseitigen Respekt", rief der Papst aus. Ministerpräsident Ehud Barak unterstrich, die Gründung des Staates Israel sei "die definitive und permanente Antwort auf Auschwitz". Die Juden seien nach Hause zurückgekehrt. Niemals mehr würden sie wieder so hilflos sein, dass andere ihnen sogar den letzten Rest ihrer menschlichen Würde nehmen könnten. Aus der Sicht des israelischen Regierungschefs erfuhr an diesem Tag auch die 45 Jahre lang verweigerte und 1993 endlich vollzogene volle Anerkennung Israels durch den Vatikan einen krönenden Abschluss.

Sie fühle sich erleichtert, sagt Schwester Elisabeth, während sie durch die Via Dolorosa in der Jerusalemer Altstadt läuft. "Ich finde es gut, dass Johannes Paul II. sich in Yad Vaschem zu der Verantwortung für die Fehler und Verbrechen der Christen gegenüber den Juden bekannt hat". Einige vorübergehende jüngere Pilger sprechen davon, die Juden seien "die älteren Brüder" der Christen - ein Gedanke, von dem Johannes Paul II. nach eigenen Worten schon als Jugendlicher geprägt war.

So hatte der Papst 1986, als er als erstes katholisches Oberhaupt in der Synagoge von Rom an einem jüdischen Gottesdienst teilnahm, unter großen Beifall der Anwesenden ausgerufen: "Ihr seid unsere Lieblingsbrüder und - in gewisser Hinsicht kann man sagen - Ihr seid unsere älteren Brüder." Als Sinnbild dieser biblischen Verbundenheit erhält Johannes Paul II. dann zum Abschluss der Feierstunde in Yad Vaschem zehn Bibel-Illustrationen, die ein in Auschwitz ermordeter Vater für seine damals zweijährige Tochter gemalt hat.

Von diesem größten Vernichtungslager der Nazis nur dreißig Kilometer entfernt liegt Wadowice, der Heimatort des Papstes. Als ihn nach Ende der Gedenkstunde die 30 Überlebenden des südpolnischen Städtchens umringen, die heute in Israel wohnen, lebt das Gesicht des Papstes sichtlich auf. Er lächelt und redet, polnische Satzfetzen sind zu hören. Einer Frau streichelt er die Wangen. Und immer wieder entwischt er Premierminister Barak, der ihn zum Ausgang dirigieren möchte. Mit dabei sind auch die beiden jüdischen Kindheitsfreunde Jerzy Kluger und Josef Bienenstock. Der 80-jährige Bienenstock überlebte acht Konzentrationslager. In einer Plastiktüte hat er ein vergilbtes Klassenfoto mitgebracht, welches er dem Papst überreicht. "Wir saßen in der gleichen Bank und ich muss ihm danken", erzählt er schelmisch. "Ich war ein Schlingel und wenn ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, konnte ich sie immer vom Papst, unserem Lolek, abschreiben", erinnert sich der alte Mann.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false