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Politik: Verzeihung, aber…

Von Christoph von Marschall

Wie ein Riegel schiebt sich die Debatte um Schuld und Leid zwischen Vergangenheit und Zukunft. 90 Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern will sich die Türkei ihrer Geschichte noch immer nicht stellen; rabiat protestiert sie gegen das internationale Gedenken an diesem Sonntag. Und 60 Jahre nach Ende des Weltkriegs bringt der Streit um Totenehrung, Schulbücher und angemessene Entschuldigungen Japaner und Chinesen gegeneinander auf.

Im Vergleich dazu mag das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Deutschland und seinen früheren Kriegsgegnern fast vorbildlich wirken. Die Bundesrepublik hat das Schuldbekenntnis zur Staatsraison erhoben, und die Opfer von damals haben das neue Deutschland in die internationale Gemeinschaft zurückgeholt. Was aber nicht verhindert, dass periodisch Streit aufbricht: um Entschädigung, Vertreibung, Schuld und Sühne. Auch in zwei Wochen wird Europa gespalten sein, freilich nach einem anderen Muster. Balten, Polen, Tschechen und westliche Europaabgeordnete kritisieren das Gedenken an das Kriegsende in Moskau – nicht weil erstmals ein Bundeskanzler dabei ist, sondern weil Russland seine Verbrechen an den Völkern Mitteleuropas leugnet. Für sie war der 9. Mai 1945 kein Tag der Befreiung, das Kriegsende markiert den Übergang von der braunen zur roten Besatzung, vom KZ zum Gulag.

Sind alle Versuche zur Bewältigung der Geschichte also vergeblich? Fortschritte bei den einen Partnern ziehen neue Verwerfungen bei anderen nach sich. Auch in der Türkei: Die Forderung nach türkisch-armenischer Annäherung belastet nun das Versöhnungsprojekt EU-Türkei. Wäre es nicht besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen, auf die Zeit, die Wunden heilt, zu vertrauen und die Annäherung im Alltag voranzutreiben, damit der wechselseitige Nutzen versöhnt: Grenzöffnung zwischen Türkei und Armenien, mehr Handel zwischen China und Japan? Und dürfen ausgerechnet die Deutschen als Lehrmeister auftreten – wo sie doch 1915 Mitwisser des Armeniermords waren und selbst den schlimmsten Völkermord verantworten?

Sie dürfen nicht nur, sie müssen sogar: jetzt, wo die gemeinsame Zukunft in der EU zur Debatte steht. Die ist nicht möglich ohne ein Minimum an Verständigung über die Vergangenheit – auch über die Geschichtsbilder. Und darüber, was Schwäche und was Stärke eines Staates, einer Gesellschaft ausmacht. EU-Europa hat aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts die Lehre gezogen, dass die Überhöhung des Nationalstaates gefährliche Feindbilder heraufbeschwört und der selbstkritische Blick in den Spiegel der Geschichte Frieden fördert. In der Türkei, in Russland, auch in Japan und China dagegen werden Bekenntnisse von Fehlern und Schuld als Schwäche empfunden, als Unterwerfung und Befleckung des Nationalstolzes. Es fehlt die Erfahrung, dass tätige Reue befreien und versöhnen kann – nicht nur Menschen, auch Staaten. Natürlich, selbst dadurch lässt sich Vergangenheit nicht so „bewältigen“, dass sie im Nationalarchiv ruht und folgende Generationen nicht mehr behelligt. Doch Schuld zu ignorieren oder zu leugnen hilft auch nicht weiter. Anerkennung durch die Nachbarn und gemeinsame Zukunft sind nicht zu haben ohne den ehrlichen Blick zurück. Eine Minderheit in der Türkei hat begonnen, sich mit dem Genozid an den Armeniern auseinander zu setzen. Sie verdient alle Unterstützung.

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