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Politik: „Viele meiner Mahnungen kamen zu früh“

Altbundespräsident Roman Herzog wird heute 70. Ein Gespräch über Ruck-Reden, Reformen und seine Zukunft

Herr Herzog, Sie werden 70. Was wünschen Sie sich?

Gesundheit und eine möglichst große Zahl von Jahren, um tun zu können, woran man mich immer gehindert hat und woran ich mich zum Teil auch selbst gehindert habe. Ich will viel lesen, und wenn meine Frau Alexandra die Leitung der Burgfestspiele an die jüngere Generation abgibt, dann wollen wir frei und möglichst ohne Bewacher reisen.

Und die Herzog-Kommission?

Die hat ihren Auftrag erfüllt. Am 1.12.2003 haben wir den Punkteplan durch den CDU-Sonderparteitag gebracht. Damit ist die Sache für mich erledigt.

Steht Ihnen die Leitung einer neuen Kommission ins Haus?

Nein, ich denke auch nicht daran, so etwas noch einmal zu machen. Die so genannte Herzog-Kommission war ein Punkt, an dem ich mir fahnenflüchtig vorgekommen wäre, hätte ich sie nicht angenommen. Als Bundespräsident habe ich immer wieder einschneidende Reformen eingefordert. Wenn einem dann gesagt wird, tu Butter bei die Fische, dann kann man nicht kneifen.

Weil es für Sie nicht befriedigend war?

Nein, weil jetzt Schluss ist. In einer Gesellschaft, in der es immer mehr alte Leute gibt – und dazu gehöre ich –, ist es Sache der Älteren, sich darüber klar zu werden, wo sie den Jüngeren noch in die Suppe spucken und wo sie es besser nicht tun.

Sie haben mal gesagt, dass Sie 15 Jahre lang Ämter bekleidet haben, die Ihnen Ausgewogenheit und Zurückhaltung abverlangt haben. Daraus sprechen Anstrengung und Befangenheit.

Ich hätte gerne das eine oder andere Mal vom Leder gezogen, das entspricht meinem Temperament. Das können Sie aber als Verfassungsrichter nicht machen und als Bundespräsident nur in ganz beschränktem Umfang. Ich habe mich an die Grenzen gehalten.

Bis auf Ihre Schilderung, Ihrem Sohn als Neunjährigem eine gelangt zu haben, weil er eine Lampe umgeworfen hat. Prompt hatten Sie es mit dem Chef des Kinderschutzbundes zu tun.

Ja. So dämlich ist unsere Gesellschaft, und ich habe nicht vor, mir noch einmal so eine Situation anzulachen. Ich habe auch nicht vor, alle zwei Wochen öffentliche Stellungnahmen abzugeben. Das habe ich in den letzten fünf Jahren auch nicht getan. Wenn ich es allerdings tue, dann möchte ich deutlich sagen, was ich für richtig halte, und mir nicht noch einmal Ausgewogenheitsgesichtspunkte auf den Tisch legen lassen. Die Zeiten sind vorbei.

Was, meinen Sie, ist von Ihren Plädoyers als Bundespräsident hängen geblieben?

Das weiß ich nicht. Ich habe das Gefühl, dass viele meiner Anmahnungen zu früh gekommen sind, weil die Bevölkerung und die Journalisten nicht richtig hingehört haben. Die eine große Schiene meiner Amtszeit war die Forderung nach Erneuerung. Zu warnen: Leute, wir steuern auf eine Krise zu auf Grund der demografischen Entwicklung. Aber auch die Realisierung, dass die wirtschaftliche Konkurrenz immer größer wird. Das ist zum großen Teil nicht verstanden worden. Übrig geblieben ist die Erinnerung an die so genannte Ruck-Rede. Sie ist damals allerdings unter dem Gesichtspunkt diskutiert worden, ob ein Bundespräsident zum Ruck mahnen darf. Typisch! Wenn die Deutschen etwas nicht hören wollen, dann weichen sie auf irgendein formales Nebengleis aus.

Schluss mit Pessimismus, mehr Risikofreude, mehr Eigenverantwortung, so spricht der Präsidentenkandidat Köhler – wie einst Sie.

Das sind alles Fehlposten in unserem deutschen Bewusstsein. Und: Man stellt sich nicht der Wirklichkeit. Ich habe vorhin ein Beispiel genannt: Da redet einer über die Erneuerung der Wirtschaft und die sozialen Verhältnisse. Die erfindet er nicht, die ergeben sich aus einer Realanalyse der Entwicklung auf der ganzen Welt. Und wir diskutieren, ob das Wort „Ruck“ das richtige ist. Ich habe den Ruck gar nicht angeordnet; ich habe lediglich gesagt, ich würde mir wünschen, dass ein Ruck durch Deutschland geht. Das haben die Leute gar nicht gelesen – weil sie der Wirklichkeit nicht in die Augen schauen wollen.

Wie viel Terror à la Madrid muss geschehen, bis mehr Vorkehrungen getroffen werden?

Lassen Sie den Terrorismus beiseite. Mit Sicherheit ist der Terrorismus islamischen Ursprungs auch eine soziale Frage – auch wenn die Führer nicht aus unterprivilegierten Schichten stammen. Er ist aber auch eine Frage, die sich aus der Globalisierung ergibt. Vielen Völkern vermittelt die Globalisierung das Gefühl, dass Individualität verloren geht. Darauf reagiert jede Gemeinschaft, indem sie sich zunächst einmal abschottet und sich auf ihre ursprünglichen Werte besinnt. Ich habe in einer Rede für Anne-Marie Schimmel gesagt, dass wir mit unserem säkularisierten Denken gar nicht mehr damit umgehen können, dass andere Menschen ganz einfach fromm sind, und dass wir gar nicht mehr wissen, ob es eine Grenze zwischen Fundamentalismus und einer ganz gewöhnlichen Frömmigkeit gibt. In diese Dinge müssten wir uns mehr hineindenken.

Blicken Sie der EU-Osterweiterung mit Genugtuung entgegen?

Osteuropa habe ich seit meiner Zeit als Verfassungsrichter ein paar Dutzend Mal bereist. Die EU-Osterweiterung wird noch genügend Schwierigkeiten bringen. Ich komme zurück auf die Globalisierung und die Rückbesinnung vieler Völker auf die eigene Identität. Ich glaube, dass sich in den nächsten Generationen weltweit vielleicht 15 Regionen bilden werden, die sich, mehr oder weniger organisiert, zwischen die Nationalstaaten und die Vereinten Nationen schieben werden. Daraus werden sich wirtschaftliche, ideologische und womöglich auch militärische Konkurrenzverhältnisse bilden. Die Zeit, in der der weiße Mann aus Nordamerika oder Europa das Sagen hatte, wird ziemlich schnell zu Ende sein.

Das Gespräch führte Almut Lüder .

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