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Viktor Juschtschenko: "Die EU hatte nicht genug Mut"

Der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko über den Gasstreit, die neue östliche Partnerschaft Europas und Russland.

Die EU will am kommenden Donnerstag eine „östliche Partnerschaft“ mit der Ukraine und fünf anderen Ländern gründen. Was erwarten Sie von dieser Partnerschaft, die ja gerade nicht eine Vorstufe zu einer Mitgliedschaft sein soll?



Das ist keine schlechte Initiative. Es ist sehr gut, dass die EU ihre eigene Strategie für Kontakte mit den osteuropäischen Ländern entwickelt. Deswegen hat die Ukraine diese Initiative nicht zurückgewiesen. Die Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU sind bereits sehr gut: Das Assoziierungsabkommen, das wir Ende des Jahres unterzeichnen werden, ist für uns äußerst wichtig, weil es eine Vorstufe unserer Integration in die EU ist. Die östliche Partnerschaft ist keine Alternative für alles. Das sind zwei verschiedene Dinge.

Viele europäische Länder sind derzeit gegen eine neue Erweiterung der EU. Ist diese Partnerschaft deshalb nicht nur eine Geste gegenüber den beteiligten Ländern?

Wir sollten da nichts vermischen. Die Menschen, die von ganzem Herzen zu Europa gehören und voller Hoffnung auf Europa schauen, müssen verantwortungsvoll behandelt werden. Leider hat Europa es noch nicht gelernt, bei zentralen Themen mit einer Stimme zu sprechen. Wenn wir uns in der Weltpolitik durchsetzen wollen, müssen wir lernen, unsere Position zu festigen. Es ist schade, dass die Länder des alten Europas die größten Europaskeptiker sind. Das ist meiner Meinung nach ein großer Fehler. Denn Europa wird den globalen Wettbewerb nicht gewinnen, wenn es nur halb vereinigt ist. Die weltweite Finanzkrise stellt uns vor neue Herausforderungen. Europa muss daher lernen, in größeren Kategorien zu denken. Es gibt keine überflüssigen Partner auf dem Kontinent, jeder ist notwendig. Wir sind alle Europäer. Glauben Sie mir: Die Integration der Ukraine in die EU ist genauso vorteilhaft für die Europäische Union wie für die Ukraine.

Was meinen Sie konkret?

Wir müssen auf die Herausforderungen im Energiebereich antworten, und wir brauchen einen einheitlichen Gasmarkt. Wenn wir unsere Ressourcen nicht diversifizieren, wird es ungemütlich für uns. Kein Land kann dies allein tun. Das ist ein Spiel mit vielen Mitspielern. Unsere Integration in die EU trägt zu mehr Stabilität bei. Die Politiker, die sagen, es sei möglich, das Europa von heute in einer Dose zu konservieren, sind weit davon entfernt zu begreifen, was Stabilität für Europa bedeutet.

Die Europäische Union ist derzeit sehr besorgt angesichts der innenpolitischen Krise in der Ukraine, die die Folgen der Wirtschaftskrise noch verschlimmert hat.

Vor vier Jahren hatten wir in diesem Land keine unabhängigen Journalisten. Seitdem haben wir es geschafft, Meinungsfreiheit zu gewährleisten. Jede Wahl konnte bei uns noch vor vier oder fünf Jahren zu einem Bürgerkrieg führen. Inzwischen hatten wir zwei vorgezogene Parlamentswahlen, und in beiden Fällen hat die Opposition gewonnen. Wir haben es in den vergangenen vier Jahren geschafft, die Grundfreiheiten und demokratischen Prinzipien zu garantieren. Die Demokratie ist in der Lage, auf jegliche Herausforderung zu antworten. Das ist der Schlüssel. Was heute in der Regierung und im Parlament passiert, darf man nicht als einen Konflikt zwischen Personen sehen. Es handelt sich um einen Konflikt zwischen Ideologien. Die eine Seite will, dass das Land in die Vergangenheit zurückkehrt.

Bundesaußenminister Steinmeier und sein polnischer Amtskollege Sikorski haben vorgeschlagen, eine EU-Sondermission nach Kiew zu schicken, um das Land bei der Überwindung der innenpolitischen und der wirtschaftlichen Krise zu unterstützen. Begrüßen Sie dieses Hilfsangebot?

Dieser Dialog wäre hilfreich für uns, und er ist notwendig. Es sind harte Zeiten, und es gibt Bestrebungen, den Kurs der Ukraine umzukehren. Das ist eine ernste Bedrohung. Deshalb wäre die Präsenz der Europäer sehr wichtig. Wir müssen lernen, all unsere Probleme auf demokratischem Weg zu lösen. Wie wir das tun, ist eine interne ukrainische Angelegenheit. Aber für den demokratischen Rahmen müssen wir alle gemeinsam sorgen. Das ist die wichtigste Herausforderung. Ich bin in Sorge um die ukrainische Demokratie. Wir brauchen Verfassungsänderungen, ein erneuertes Wahlsystem und Justizwesen und ein Paket gegen die Krise. Dabei wäre die europäische Anwesenheit von größter Bedeutung, denn es ist eine Systemreform nach europäischem Muster. Es geht nicht darum, uns zu zeigen, was getan werden muss, sondern darum, den demokratischen Prozess zu begleiten und zu verankern.

Der frühere russische Regierungschef Gajdar sagte kürzlich, die russisch-ukrainische Gaskrise von 2006 sei ein politischer Konflikt gewesen, die im Januar dieses Jahres dagegen eine wirtschaftliche Krise. Stimmen Sie dem zu?

Nein. Beide Krisen waren politisch motiviert. Es gibt nur eine Schlussfolgerung: Wir alle haben im Januar dieses Jahres verloren. Wir haben mehr Instabilität erhalten. Was getan wurde, war nicht gut durchdacht und nicht angemessen. Die Europäische Union hatte nicht genug Mut für eine stärkere Antwort auf diese Krise. Es geht nicht nur um die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland. Leider haben wir es nicht geschafft, den Status aller Beteiligten zu sichern: der Energielieferanten, der Transitländer, und der Verbraucher. Unsere Beziehungen mit Russland im Gassektor werden durch unzureichende Vereinbarungen geregelt. Sie erfordern jede Minute manuelle Nachjustierung. Keine einzige europäische Transitfirma würde eine derart niedrige Gebühr akzeptieren wie wir. Die europäischen Transittarife sind vier- bis fünfmal höher. Unser Gastransit arbeitet jetzt mit Verlust. Was war das Ziel aller Beteiligten, wenn am Ende so ein Ergebnis dabei herauskommt? Bringt das irgendjemandem mehr Stabilität?

Was schlagen Sie vor?

Wir sollten die Transitpolitik einschließlich der Liefermengen auf Jahre festlegen. Europa muss dabei von der Ukraine Transitgarantien erhalten. Genauso brauchen wir auch Liefergarantien. Dann müssen wir entscheiden, wie wir das System modernisieren können. Im März haben wir eine gemeinsame Erklärung mit der EU über die Modernisierung des ukrainischen Gasnetzwerks unterzeichnet. Dieses Netzwerk sichert 82 Prozent des russischen Gastransits nach Europa. Nach dem Abkommen mit Gasprom gibt es aber bisher keine einzige Garantie über den Umfang der Lieferungen. Ist das für Europa praktikabel? Oder gibt es Pläne, von denen wir nichts wissen? Das ist kein bilaterales Problem. Hier geht es um die Formulierung gemeinsamer Prinzipien für den Transit von der Ostsee, dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer nach Europa. Lassen Sie uns Stabilität für uns alle sichern und aufhören, jeden Winter über Liefermengen, Gebühren und Zölle zu streiten.

Wie würden Sie die Beziehungen der Ukraine zu Russland beschreiben?

Ich würde gern bessere Beziehungen sehen. Aber das hängt hauptsächlich von Russland ab. Je größer ein Land ist, desto mehr Verantwortung muss es tragen. Russland ist eine Supermacht. Wir erhalten nicht oft direkte Antworten auf unsere Vorstöße. Wir wollen, dass unser Verhältnis freundlich, korrekt und eng ist. Aber unser Territorium, unsere Unabhängigkeit und unsere Souveränität dürfen keine Trumpfkarte sein.

Das Gespräch führten Claudia von Salzen und Journalisten aus anderen europäischen Ländern.

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