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Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew und ehemaliger Profiboxer.

© Mike Wolff

Vitali Klitschko im Interview: "Jeder Tag ist wie ein Kampf"

Der frühere Boxweltmeister Vitali Klitschko über seine Arbeit als Bürgermeister von Kiew, die Sanktionen gegen Russland - und seine persönlichen Pläne für die Zukunft.

Herr Klitschko, Sie sind seit knapp vier Jahren Bürgermeister von Kiew. Was war bisher Ihre größte Herausforderung?

Meine schwierigste Herausforderung war zu beweisen, dass ein Boxer auch in der kommunalen Verwaltung erfolgreich sein kann. Die Erwartungen an meine Arbeit waren sehr hoch.

Seit vier Jahren ist die Ukraine auch ein Land im Krieg. Wie sehr prägt das den Alltag der Menschen, auch in Kiew?

Jeder Ukrainer träumt von Frieden und von Sicherheit. Das ist der wichtigste Wunsch für jeden in Kiew und im ganzen Land.

Man kann leider seit 2014 kein Gespräch über die Ukraine führen, ohne auch über Russland und die wegen der russischen Intervention in der Ukraine verhängten Sanktionen zu reden…

Ich möchte mich zunächst für die Unterstützung der Ukraine bedanken. Diese Unterstützung betrifft nicht nur unser Land, sondern auch unsere Werte, unsere zukünftige Ausrichtung. Wir haben uns klar dazu bekannt, dass wir ein modernes, demokratisches, europäisches Land aufbauen wollen. Das ist unser größtes Ziel. Wir sehen unsere Zukunft als Teil der europäischen Familie.

In Deutschland haben sich mehrere Ministerpräsidenten sowie Bundestagsabgeordnete für ein Ende der Sanktionen gegen Russland ausgesprochen. Wie bewerten Sie das?

Die Sanktionen müssen dann reduziert werden, wenn Russland seine aggressive Politik stoppt und aufhört, die Menschenrechte, internationale Vereinbarungen wie das Budapester Memorandum und die territoriale Einheit der Ukraine zu verletzen. Erst dann kann man über einen Abbau der Sanktionen sprechen. Leider haben wir bisher keine positiven Signale von Russland erhalten. Die Sanktionen sind eines der wichtigsten Mittel gegen die aggressive russische Politik, und sie wirken. Solange Russland seine Politik nicht ändert, müssen die Sanktionen eher verstärkt werden.

Selbst diejenigen, die mit großem Interesse und Engagement die Entwicklung der Ukraine begleiten, sehen derzeit mit Sorge, dass es im Kampf gegen Korruption zu wenig Fortschritte gibt. Woran liegt das?

Wir wollen das ganze korrupte System ändern, das wir geerbt haben. Aber natürlich will dieses System selbst sich nicht ändern. Die Leute, die darin involviert sind, wollen sich schützen und verteidigen dieses System. Diese Veränderungen sind also nicht einfach. Aus meiner eigenen Erfahrung sind Transparenz und Offenheit die besten Mittel gegen dieses System. Wir haben sehr viele Fortschritte bei elektronischen Einkommens- und Vermögenserklärungen und öffentlichen Ausschreibungen gemacht, wir haben schon sehr viel erreicht. Aber trotzdem ist die Korruption noch da, wenn auch nicht mehr in so großem Ausmaß. Leider können wir noch nicht sagen: Wir haben die Korruption zerstört. Dazu ist es noch zu früh. In diesem Bereich haben wir viele Herausforderungen vor uns, die wir in kurzer Zeit meistern müssen, zum Beispiel die Schaffung eines Anti-Korruptions-Gerichts.

Genau dieses Thema wird derzeit zum Streitfall zwischen der Ukraine und der Europäischen Union sowie dem Internationalen Währungsfonds, die kritisieren, dass der bisher vorgelegte Gesetzentwurf nicht die Unabhängigkeit dieses Gerichts garantiert.

Wir erwarten vom Parlament, dass es die Aufgabe, ein solches Gericht zu schaffen, bald erfüllt. Die Menschen wollen keinen Kampf zwischen den Institutionen, die gegen Korruption kämpfen, sondern einen Kampf gegen Korruption. In diesem Bereich haben wir noch viel zu tun.

Nun gibt es aber auch innerhalb der ukrainischen Führung offenbar Widerstände dagegen, das Anti-Korruptions-Gericht so unabhängig zu machen, wie das westliche Institutionen empfehlen.

Wir müssen gar nichts Neues entwickeln, sondern die besten Beispiele aus dem Westen nehmen, was transparente Verfahren angeht, und diese Beispiele einfach in der Ukraine umsetzen.

Der Internationale Währungsfonds hat die Auszahlung der nächsten Tranche an die Ukraine vorerst gestoppt, bis wichtige Reformen besonders im Kampf gegen die Korruption umgesetzt sind. Auch die EU mahnt die Umsetzung wichtiger Reformen an. Fürchten Sie, dass die Ukraine die internationale Unterstützung verliert?

Wir betrachten das als Druck, damit wir so schnell wie möglich die Aufgaben erfüllen, die vor uns liegen.

Der Druck von der EU und anderen internationalen Organisationen ist also aus Ihrer Sicht wichtig?

Ich sehe das sehr positiv. Dieser Druck ist gut für die Ukraine, aber natürlich nicht für diejenigen, die diese Reformen nicht wollen.

Wenn Sie hier in Deutschland unterwegs sind, haben Sie den Eindruck, dass die Deutschen genug über die Ukraine wissen?

Ich nutze jede Gelegenheit, mein Land zu präsentieren. Mir ist wichtig zu erklären, wo wir stehen und wo wir hinwollen. Die Ukraine, eines der größten Länder Europas, verfügt über ein riesiges Potenzial. All unsere Nachbarländer sehen die Ukraine als politisch und wirtschaftlich stabiles Land. Dagegen wäre Instabilität in unserem Land eine Gefahr für die ganze Region. Deswegen ist unsere größte Aufgabe, Erfolge zu haben, wirtschaftliche und politische Erfolge. Diese werden dann in die ganze Region ausstrahlen.

Welche Art von Unterstützung wünschen Sie sich von Deutschland?

Wir brauchen vor allem moralische und politische Unterstützung, aber auch Hilfe im Bereich von Technologie und Know-how und natürlich finanzielle Unterstützung.

Wenn man Vertreter der deutschen Wirtschaft fragt, ob sie in der Ukraine investieren würden, dann sagen sie, das sei aus ihrer Sicht sehr schwierig, und nennen Probleme wie die Korruption. Was antworten Sie diesen Unternehmern?

Sie haben Recht. Unsere Gesetze sind zu kompliziert, und dann kommt noch der menschliche Faktor hinzu… Von Investitionen hängt auch mein Überleben als Politiker ab. Jeder Investor bringt nicht nur das Geld, er bringt auch Arbeitsplätze und bezahlt Steuern in unsere Stadtkasse. Deswegen biete ich mich jedem Investor als persönlicher Bodyguard für seine Investitionen und Projekte an. Letztes Jahr entfielen 60 Prozent der Investitionen in der Ukraine auf die Hauptstadt Kiew. Das freut mich sehr.

Ein wirtschaftliches Großprojekt, das derzeit auch mit deutscher Unterstützung geplant wird, ist die Erdgas- Pipeline Nord Stream 2. Welche Folgen hätte dieses Projekt für Ihr Land?

Meiner Meinung nach ist Nord Stream 2 nicht im Interesse der Europäischen Union, sondern stärkt in erster Linie Russland. Der Ukraine würde dieses Projekt sehr schaden. Russland geht es darum, die Pipeline, die durch die Ukraine verläuft, nicht mehr zu nutzen. Das ist keine wirtschaftliche, sondern eine politische Entscheidung. Nord Stream 2 bringt Russland viel mehr politische als finanzielle Vorteile.

Sie waren vor mehr als vier Jahren eine der Führungsfiguren auf dem Maidan. Was ist in der ukrainischen Gesellschaft geblieben von der Aufbruchstimmung von damals?

Anders als früher muss die Regierung heute wissen: Von der Meinung der Leute hängt sehr viel ab. Jeder, der die Menschen belügt und die Gesellschaft gegen sich aufbringt, wie der frühere ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch, kann so schlecht enden wie er. Die Leute sind auf die Straße gegangen und haben gesagt: Wir haben genug Lügen zu hören bekommen. Wir wollen ein modernes Land aufbauen.

Aber die Hoffnungen vieler Menschen in der Ukraine sind seit dem Maidan enttäuscht worden. Was sagen Sie denen, die der Meinung sind, in den vergangenen vier Jahren wurde viel zu wenig erreicht?

Russland versucht, alles zu tun, damit die Ukraine keinen Erfolg hat und die Menschen unzufrieden bleiben. Ein richtiger Tiefschlag ist für uns natürlich, was in Donezk und Luhansk passiert (den Gebieten in der Ostukraine, die wegen des Krieges nicht unter der Kontrolle der Regierung sind, Anm. d. Red.). Damit fehlen uns nicht zuletzt zehn Prozent unserer Wirtschaftsleistung. Das ist sehr schmerzhaft für unser Land. Aber trotzdem orientiert sich unsere Wirtschaft jetzt an den Standards der EU. Wir befinden uns in einem schwierigen Veränderungsprozess. Währenddessen geht Russland als Aggressor gegen die Ukraine vor. Dennoch machen wir weiter. Letztes Jahr hatten wir sehr gute Zahlen beim Wirtschaftswachstum. Das ist die beste Antwort. Natürlich warten alle auf schnellere Ergebnisse. Aber es gibt viele Faktoren, die den Reformprozess bremsen. Meine Aufgabe ist es, die Reformen so schnell wie möglich umzusetzen, die konkret etwas im persönlichen Leben der Menschen ändern. Kiew ist ein Beispiel dafür, dass die Menschen wirklich Veränderungen sehen können: neue Straßen, neue Kindergärten, neue Schulen, die Sanierung von Gebäuden, neue Parks, neue Arbeitsplätze, den höchsten Monatslohn, gute Sozialleistungen. Natürlich ist Kiew eine Wohlstandsinsel im Vergleich zu anderen Regionen. Aber wir wollen unsere positive Erfahrung auch in andere Regionen tragen.

In der Ukraine werden im kommenden Jahr ein neuer Präsident und das Parlament gewählt. Was ist wahrscheinlicher: dass Sie noch für ein höheres Amt kandidieren – oder Ihr Comeback als Boxer?

(Im Hintergrund wartet seit einiger Zeit der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok auf Klitschko, gerade haben die beiden gemeinsam auf einem Podium der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit und des Tagesspiegels gesessen. Nun mischt sich Brok in das Gespräch ein: „Das war eine böse Frage.“ Klitschko lacht und antwortet trotzdem.) Im Boxen habe ich gar nichts mehr zu beweisen, ich habe schon alles erreicht. Mein wichtigstes Ziel ist viel schwieriger zu schaffen, als Weltmeister im Schwergewicht zu sein: gegen Korruption, gegen Herausforderungen, gegen Russlands Aggression zu kämpfen und Veränderungen für mein Land und meine Stadt zu erreichen. Als Boxer habe ich früher drei oder vier Mal pro Jahr gekämpft. Jetzt kämpfe ich 365 Mal im Jahr – jeder Tag ist wie ein Kampf. Und es zählen dieselben Faktoren wie beim Boxen (Klitschko haut jetzt bei jedem Punkt seiner Aufzählung mit der Faust auf den Tisch): Willen, Charakterstärke, man muss sich ein Ziel setzen und es dann schaffen. Auch im Boxen hängt nicht alles von dir allein ab, sondern von deinem Team, von denen die neben dir stehen und dieselben Werte teilen. Ich bin fest davon überzeugt: Wir schaffen das. Denn wir glauben an uns selbst, an unsere Stadt, und an unser Land. Dafür kämpfen wir. Und ich weiß besser als jeder andere: Ohne Kampf gibt es keinen Sieg. Deswegen kämpfen wir weiter für die Ukraine.

Sie schließen also nicht aus, sich eines Tages für ein höheres Amt, beispielsweise das Präsidentenamt, zu bewerben?

Eines Tages? Das schließe ich nicht aus. Aber vorher muss ich erfolgreich in Kiew sein und das zu Ende bringen, was ich den Menschen versprochen habe.

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