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Im April wurde durch Proteste auf den Straßen ein friedlicher Machtwechsel erzwungen.

© dpa

Voir der Parlamentswahl in Armenien: "Es kann doch nicht sein, dass wir eine neue Berliner Mauer errichten"

Staatspräsident Armen Sarkissjan über die Wahl seines Landes zwischen Ost und West, globale Integration und die neue Seidenstraße.

Sieben Monate nach einem friedlichen Machtwechsel wählt Armenien an diesem Sonntag ein neues Parlament. Präsident Armen Sarkissjan ist überzeugt, dies werde keine Richtungswahl zwischen Ost und West. Armenien wolle Brücke sein in einer Zeit, in der es wenig Dialog gebe zwischen Europa und Eurasien.

Herr Präsident Sarkissjan,wie hat sich Armenien in den letzten Monaten verändert?

Armenien ist in den 27 Jahren seiner Unabhängigkeit durch sehr große Schwierigkeiten gegangen. Nach dieser Transformation von einer Republik der Sowjetunion zu einem unabhängigen Staat stellte sich heraus, viele Menschen sind unglücklich: weil sich Erwartungen nicht erfüllt haben, wegen der Korruption, weil junge Leute das Gefühl hatten, im Lande keine Zukunft zu haben, weil viele zu der Auffassung gelangt waren, in Armenien gibt es keine Gerechtigkeit. Die Menschen hatten die Nase voll, sie wollen in einem anderen Land leben. Deshalb kam es zu dem, was sie eine friedliche Revolution nennen. Tatsächlich aber ist es eine weitere Transformation. Armenien wandelt sich gerade von einer präsidialen in eine parlamentarische Demokratie - und das ist ein schwieriger Wechsel der politischen Kultur. Ich war oft auf der Straße, inmitten der Menschenmenge. Wir haben Glück gehabt. Jetzt wird Armenien ein Parlament wählen. Ich hoffe, dass die Wahlen frei und fair werden.

Armen Sarkissjan, Präsident von Armenien.
Armen Sarkissjan, Präsident von Armenien.

© imago/Metodi Popow

Wird diese Wahl eine Richtungsentscheidung zwischen Ost und West, zwischen der Eurasischen Partnerschaft, der Armenien angehört, und der EU und der Nato?

Nein. Einige glauben, in Armenien habe es eine weitere dieser Farben-Revolutionen gegeben, eine „westliche“ Revolution. Andere sagen, das war gar keine Revolution, sonst hätten die Russen ja eingegriffen. Die Wahrheit ist: dies war eine ausschließlich armenische Revolution. Auch die neue Regierung hat versichert, es werde keinerlei Veränderungen unserer Außenpolitik geben. Das heißt, Armenien wird weiter Mitglied der Eurasischen Partnerschaft bleiben und auch in den gemeinsamen Verteidigungsstrukturen dieses Bündnisses. Ebenso wird Armenien seine Zusammenarbeit mit der EU vertiefen.

Mitglied der EU will Armenien also nicht werden?

Das ist komplexer: Wir sind vielleicht das einzige Land, dass der Eurasischen Union angehört und enge Kontakte zur EU hat. Wir wollen sehr nah an Westeuropa sein und wir wollen unsere eurasischen Kontakte bewahren. Wir sind eine Brücke. Ich glaube, wir werden in Situationen kommen, wo es eine solche Position braucht. Es kann doch nicht angehen, dass wir eine neue Berliner Mauer bauen, diesmal eine virtuelle. Derzeit gibt es leider nicht viel Dialog zwischen Europa und Eurasien.

Sehr viel mehr Armenier leben außerhalb, als in dem Staat Armenien selbst. Das heißt, die Armenier haben eine lange „Kultur“ von Migration und Integration. Wie sehen sie aus dieser Perspektive die Kontroverse und die Spannungen in Westeuropa, die es derzeit gibt?

Seit Jahrhunderten sind Armenier überall als Handelsleute unterwegs. Armenier waren überall an der Seidenstraße, aber auch in Westeuropa. Dann haben Anfang des vorigen Jahrhunderts Hunderttausende vor der Gewalt in Ostanatolien fliehen müssen. Und Hunderttausende haben ihr Leben verloren. Ich selbst habe 30 Jahre außerhalb Armeniens gelebt und pflege sehr enge Kontakte zur armenischen Diaspora. Meinen Landleuten rate ich: wohin immer ihr auch geht, ihr müsst immer ein guter Bürger dieses Landes werden. Zieht euch nie in ein Getto zurück. Ihr müsst euch integrieren, das ist absolut wichtig. Denn nur dann könnt ihr auch etwas für das Land tun, aus dem ihr oder eure Vorfahren kommen. Es ist kein Widerspruch ein guter Bürger Deutschlands und ein guter Armenier zu sein. Derzeit sind wir sowieso inmitten einer globalen Integration. Wer sich dem entgegenstellt, der schwimmt gegen den Strom der Zeit.

Sie haben die Seidenstraße erwähnt. In deren Wiederbelebung investiert China sehr viel. Sehen Sie angesichts der geostrategischen Lage Ihres Landes einen Platz für Armenien in dieser Strategie?

Viele nehmen "Seidenstraße" noch zu wörtlich: Sie denken an Warenströme auf Straßen, Schiene und dem Meer. Wir treten aber gerade in eine neue Ära. In der spielen physische Faktoren wie die Größe von Staaten oder ihr Reichtum an Bodenschätzen nicht mehr eine so entscheidende Rolle. Forschung und die Fähigkeit zu Innovation werden dagegen der Schlüssel zu künftiger Prosperität sein. Armenien hat in der Region die am höchsten entwickelten IT-Kapazitäten, das wird ihnen jeder Experte bestätigen. An einer - wenn sie so wollen - virtuellen Seidenstraße wird Armenien seinen Platz sicher finden.

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