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Liedermacherin Maike Maja Nowak trat in Russland als Adriana Lubowa auf.

© IMAGO

Vom Schlager- zum TV-Star: Die späte Heimkehr der Hundeflüsterin

Maike Maja Nowak ist die „Hundeflüsterin“ der Nation. Dabei hat kaum jemand solche Umwege gemacht wie sie, um in diesem Land anzukommen.

Im Jahr 1990 war alles vorbei. Sie war gerade Mitte zwanzig und alles zu Ende. Sie hatte keine Worte mehr. Sie war eine Liedermacherin ohne Worte. Der Westen machte sie stumm.

Die DDR nannte solche wie sie gern „progressiv“, kritisch zwar, kritisch durchaus, aber doch auf der „richtigen Seite“. Mit zwanzig hatte sie den Förderpreis des Leipziger „Talenteschuppens“ gewonnen, später mit dem Liedermacher Norbert Bischoff gemeinsam auf der Bühne gestanden. Bischoff nahm sich am 9. November 1993 das Leben, dies sei das richtige Datum zu verschwinden für einen Deutschen, sagte er. Er war 34 Jahre alt.

Alle wollten in den Westen: Sie ging zog nach Osten

Vielleicht hat Maike Maja Nowak es besser gemacht. Sie verschwand nicht aus dem Leben, nur aus dem Land. Es war nicht ihre Einheit, sollten die anderen doch allein feiern. Alle wollen in den Westen? Sie nahm die entgegengesetzte Richtung. Eine Leipzigerin fuhr nach Moskau. Allein. Es schien ihr näher, Geografien der Seele sind so, manchmal. Und Maike Maja Nowak wurde Adriana Lubowa. Sie sang sich in die russische Seele, in die russischen Seelen hinein: auf Russisch. Die Russen brauchten noch Lieder.

Berlin-Frohnau. Es ist das letzte Haus vorm Wald, hat sie gesagt. Es liegt in perfektem Inkognito weit hinter dem Zaun, von Büschen verborgen. An der Gartenpforte hängt das fast lebensgroße Bild einer steinalten Frau mit Kopftuch. Eigentlich gar keine üble Idee, Besuchern schon an der Tür die Menschen dahinter vorzustellen, Namensschilder sagen so wenig.

Eine viel jüngere, schöne und sehr schmale Frau kommt ans Tor. Habe ich die nicht schon mal gesehen?, würden jetzt wohl viele fragen. Aber keiner riefe: Da ist ja Adriana Lubowa! Es gibt keine Adriana Lubowa mehr. Sie singt nicht, sie flüstert nur noch. Maike Maja Nowak ist die „Hundeflüsterin“ der Nation, das ZDF machte es möglich. Nun läuft schon die dritte Staffel ihrer Sonntagnachmittagssendung für den verzweifelten Tierfreund. Die Botschaft lautet: Nicht der Hund ist das Problem. Es ist der Mensch! Warum soll der Hund auf den Menschen hören? Viel einfacher ist es doch, der Mensch hört auf den Hund. Die Leiter herkömmlicher Hundeschulen sahen es nicht ohne Erbitterung und forderten bereits die Einstellung der Sendung.

Der Weg vom Haus zur Gartenpforte ist nicht gerade kurz. Andere fielen jetzt in einen leicht nervös-eiligen Schritt, sie nicht. Die „Hundeflüsterin“ läuft nicht betont schnell, aber auch nicht zu langsam. Das muss sie sein, die Souveränität einer Rudelführerin. Als wüsste da eine genau, wo es langgeht. Dabei hat kaum jemand solche Umwege gemacht wie sie, um in diesem Land anzukommen. Umwege zu sich? Dies ist der Bericht der späten Ankunft der Maike Maja Nowak unter besonderer Berücksichtigung eines Satzes von Brecht: Angesichts von Hindernissen mag die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die krumme sein.

Sie sang den Russen ihre eigene Lieblingsdichterin vor, Marina Zwetajewa. Sie wusste genau, dass das an Wahnsinn grenzte.

Aber sie ist nur die Vorhut. Zum Rudel gehören weiterhin Raida, Mitja, Frieda und Tinka. Es kommt darauf an, genug Fassung zu gewinnen, um der kollektiven Begrüßung der fantastischen Vier standzuhalten.

Kein Geheul, kein Gebell unterbricht die Stille. Raida wurde auf Malta vor einem Supermarkt aus dem Auto geworfen, Mitja fand man neben seiner toten Mutter und seinen toten Geschwistern auf den Straßen Moskaus; Friedas und Tinkas Ankunft auf Erden fiel kaum einladender aus. Es sind die Erniedrigten und Beleidigten dieser Hunde-Erde.

Maike Maja Nowak hat einmal viel über den Kommunismus nachgedacht. An diesem Mittag in ihrem Garten liegt sein Ursinn unerwartet offen: In vollkommener Hund-neben-Hund-Harmonie auf der gleichen Terrasse liegen und in die Sonne blinzeln, jeder Hund ein Mittelpunkt der Welt. Die Vogellaute aus allen Büschen, allen Bäumen ringsum machen die Stille nur umso hörbarer. „Ohne das hier könnte ich die Stadt nicht ertragen“, sagt Maike Maja Nowak mit kaum merklichem Leipziger Restakzent, als wolle sie sich für so viel randurbane Unberührtheit entschuldigen. Dabei dürfte Moskau kaum leiser gewesen sein als Berlin. Moskau, wo sie sich 1990 im zwanzigsten Stock eines Neubaublocks wiederfand, und der Platz vor ihr hieß Prjeobrazhenskaja Ploschadjch, Platz der Verklärung.

Eine Stimme flüsterte: Fahr nach Russland!

Aber Maike Maja Nowak blieb nicht lange. Obwohl sie Bulat Okudschawa traf, die lebende Legende der russischen Liedermacher. Obwohl sie bald nach ihrer Ankunft das erste Konzert gab: Sie sang den Russen ihre eigene Lieblingsdichterin vor, Marina Zwetajewa. Sie wusste genau, dass das an Wahnsinn grenzte. Da half es wenig, dass die Zwetajewa auch ihre Lieblingsdichterin war, eben erst entdeckt. Als ihr Mit-Osten im Konsumrausch versank, fand Maike Maja Nowak bei der Russin die Worte, die ihr fehlten. Marina Zwetajewa rette ihr das Leben, das innere. „Ich wusste, ich musste diese Frau im Original lesen können“, sagt die Hundeflüsterin der Nation. Sie ahnt, was sie schon damals von den meisten Menschen unterschied. Andere in ihrer Sprachnot hätten einen Volkshochschulkurs Russisch belegt, aber sie folgte der Stimme, die in ihr flüsterte: „Fahr hin, jetzt gleich!“ Vielleicht hören auch andere solche Stimmen, aber sie stellen sich taub und nennen ihre Gehörlosigkeit Realismus.

Sie wollte nie eine Realistin werden. Und nur Nichtrealisten konnten sich in ihre Position bringen: In Moskau Marina Zwetajewa singen! Sie beginnt, „Rasluka“ zu rezitieren, „Abschied“. Mitja, Frieda und Tinka heben kurz die Köpfe, um ruhig auf den warmen Boden zurückzusinken. Sie hören genau, wenn es um sie geht. Jetzt geht es nicht um sie.

Die Alten im Dorf lächelten nachsichtig. Eine Städterin! Und dann standen sie eines Tages mit dem Gewehr vor ihrer Tür.

Nie hat sie sich so gefürchtet wie vor diesem ersten Auftritt. Nie hatte sie so gehofft, dass der Boden sich öffne und sie einfach verschlucke wie damals, als der letzte Ton verklang. Stille, eine Ewigkeitssekunde lang. Und dann brandete der Applaus an ihr ungläubiges Ohr. Von nun an stand sie auf Russlands Bühnen.

Ein Vierteljahrhundert später herrscht in ihrem Wohnzimmer ein ewiges Meditations-Halbdunkel hinter durchbrochenen Holzfenstern. Draußen ist heller Mittag, aber Maike Maja Nowak zündet Kerzen an, sie versinkt auf Fußbodenhöhe in einem Polster, in dem man nur verloren gehen kann. Sie schaut auf ein sehr großes Konzertplakat an der Wand gegenüber, es ist kein Bild darauf, nur schwarze und rote kyrillische Buchstaben. Ein schönes Plakat, es kündigt sie an. „Mein Keller ist noch voll davon, alle handgesetzt, ich konnte sie nie wegwerfen“, sagt sie. Künstler, die nicht mehr auf der Bühne stehen, wirken oft wie Hinterbliebene ihrer selbst. Aber Maike Maja Nowak sieht das Plakat ganz ohne Wehmut.

Vielleicht war Lipowka schon damals stärker in ihr. Das Dorf kurz vor Sibirien, so weltentlegen, dass selbst Google maps es bis eben nicht auffinden konnte. Eine Moskauer Liedermacher-Freundin hatte sie immer wieder eingeladen, sie hatte immer wieder abgelehnt. Bis sie aufgab. Und dann mit einer gewissen Düsternis registrierte, dass der Zug Richtung Lipowka nur Schlafwagen führte. Auf der Toilette verlor sie das einzige Unterpfand westlicher Zivilisation, das sie bei sich trug: ihre Haftschalen. Die Skepsis der Leipzigerin wuchs, als sie ans Ufer des ersten brückenlosen Flusses traten und die Moskauer Liedermacherin ihrem Rucksack ein aufblasbares Gummiboot entnahm. Eine Straße fanden sie nicht. Es führte keine mehr nach Lipowka. Es sollte nur ein Ausflug werden, einer von russischen Dimensionen zwar, aber doch nur ein Ausflug. Und dann fand sie schon am ersten Tag das Holzhaus, in dem sie bleiben wollte.

Das Dorf, die Einfachheit - ihr Traum

„Das Eintauchen in die Einfachheit von Lipowka war das Kostbarste in meinem Leben“, erklärt Maike Maja Nowak. Mit solcher Bestimmtheit blicken sehr alte Menschen auf ihr Leben zurück, aber eine Frau Anfang fünfzig? Egal, was noch vor ihr liegen mag, sie weiß es. Es gibt ein Vor-Lipowka und ein Nach-Lipowka. Und von allein wäre sie wohl nie mehr weggegangen.

In diesem Dorf erfüllte sich ihr Traum vom unentfremdeten Leben. Der Kommunismus von Lipowka gehorchte gewissen nicht allgemein durchsetzbaren Bedingungen. Nicht nur, dass keine Straße ins Dorf führte. Die Bewohner waren auch schon etwas älter, die jüngste Bäuerin Mitte siebzig, die älteste 103. Bis Gorbatschow kam, konnte das Dorf von der Kolchose leben, danach gingen die Jüngeren weg und kamen nicht wieder. Jeder Bewohner war für seine eigene Grundversorgung zuständig, aber das besondere Talent des Einzelnen gehörte allen. So gab es den Stiefel-Anton, den Körbe-Petja, die Brot-Walja und die „heilige Natascha“. In ihrem Buch „Wanja und die wilden Hunde“ hat Maike Maja Nowak den Bewohnern von Lipowka ein wunderbares Denkmal gesetzt. Hunde?

In ihrem ersten russischen Frühling stand der Wald unter Wasser wie in jedem Jahr; also fuhr sie im Boot zwischen den Stämmen hindurch, dachte Gedanken der Form Das-glaubt-mir-kein-Mensch und hörte irgendwann ein Fremdplätschern neben sich. Ein großer Hund schwamm durch das Eiswasser, immer in sicherem Abstand zum Boot, aber ihm folgend. Am Abend sah sie eine große dunkle unbewegliche Hundesilhouette auf dem Weg zu ihrem Haus liegen. Das ist ein bissiger Köter aus dem Wald, sagten die Dorfbewohner, es sei seltsam, dass er sich ins Dorf traue. Der Hund blieb, wo er war, mitten auf dem Weg zum einzigen Brunnen von Lipowka. Er ließ niemanden vorbei, es sei denn, die Bootsfahrerin eskortierte die Alten, die mit den großen hölzernen Wasserträgern über der Schulter zum Brunnen wollten. So trat Wanja ins Leben der Maike Maja Nowak.

„Wanja, Wanuschka, Wanka“: Es gibt kein Foto von beiden, auf dem Wanjas Kopf nicht auf ihrer Schulter ruht. Und plötzlich liegt es auf der Hand, was Glück ist: geteilte Stille. Mit einem anderen geteilte Stille. Und dieser andere muss nicht einmal ein Mensch sein. Ist das die Sehnsucht so vieler, die einen Hund wollen? Und dann laufen sie im schlimmsten Fall, stets balancierend am Rand eines Nervenzusammenbruchs, von Hundeschule zu Hundeschule.

Maike Maja Nowak legt Raida, Mitja, Frieda und Tinka Halsbänder um für den Fall, dass sie im Wald dem Förster begegnen. Doch statt nun unter lautem Gebell zum Tor zu stürmen, verlassen sie auf ein kleines Nicken hin den Garten in fast schon gespenstischer Disziplin.

So wie Maike Maja Nowak heute mit ihrem Rudel durch den Berliner Wald läuft, ist sie vorher schon mit Wanja, dem Roten Anton, Laska, Husar, Alma und den anderen durch Lipowka gegangen. Immer mehr Hunde schlossen sich ihnen an, und sie konnte nie einen zurückweisen. Die Babuschkas und Deduschkas, die Großmütter und Großväter von Lipowka lächelten nachsichtig. Eine Städterin! Und dann standen sie eines Tages mit dem Gewehr vor ihrer Tür.

Wanja war tot. Ein betrunkener Bauer hatte ihn im Wald nicht erkannt und erschossen.

Die Hunde der Fremden hatten am Abend zuvor schon auf die von der Weide heimkehrenden Ziegen gewartet, um wie die Blitze unter sie zu fahren, so dass sie in alle Richtungen auseinanderstoben, worauf die Alten und Uralten von Lipowka die halbe Nacht im Wald nach ihnen suchen mussten. Seniorengerecht war das nicht, und weil die Dorfbewohner von Lipowka solche Wörter nicht kannten und auch nicht benutzt hätten, hätten sie sie gekannt, standen sie nun mit lipowkaesker Geradlinigkeit, das Gewehr in der Hand, vor ihrer Tür, um alle Ziegenfeinde zu erschießen. Das war der Tag, an dem Maja Maike Nowak beschloss etwas zu erwerben, was sie heute wohl „Führungskompetenz“ nennen würde.

Sollte sie ihren Hunden nun „Platz!“ und „Sitz!“ zurufen? Sie hätten die Bürgin ihrer Existenz verständnislos angeschaut. Stattdessen begann Maike Maja Nowak zu beobachten, wie die Hunde sich untereinander Grenzen setzten. „Es waren immer die gleichen Signale: strenger Blick und/oder Lefzen heben und/oder knurren.“ Bei missachteter Warnung folgte sofort eine Konsequenz: kurzes Schnappen, ein Rempler in die Seite, auf den Rücken werfen.

Und wirklich führt Maike Maja Nowak ihr Rudel vor allem mit den Augen, statt zu knurren, zischt sie „Sssst!“. Nie hätte die entlaufene Liedermacherin geglaubt, mit solchen Qualifikationen einmal in Berlin eine Hundeschule zu betreiben und im Fernsehen aufzutreten. Überhaupt hat sie ihr Dorf 1997 nur für ein paar Konzerte in der Berliner „Bar jeder Vernunft“ verlassen. Die Kirche von Lipowka war abgebrannt, einige wenige Auftritte nur, und es wäre Geld genug da für eine neue. So sollte es sein.

Dann kam der Anruf: Wanja war tot.

Sie konnte nicht zurück, nie mehr

Ein betrunkener Bauer hatte ihn im Wald nicht erkannt und erschossen. Für Maike Maja Nowak blieb die Welt stehen. Und es war nicht allein Wanja. Baba Pascha und Baba Luga waren nicht mehr. Sie sang hier in Berlin russische Lieder und die Über-Hundertjährigen, die sie für latent unsterblich gehalten hatte, die sie zu ihren Großmüttern erklärt hatte, beendeten einfach so ihren Aufenthalt auf Erden.

Sie konnte nicht mehr zurück nach Lipowka. Sie würde es nie mehr wiedersehen. Wie hinter Glas sang sie sich zwei Jahre lang durch ein fremdes Land, das doch das ihre war. Dann kam der Zusammenbruch. Adriana Lubowa zahlte Vertragsstrafen für alle abgesagten Konzerte, wurde Putzfrau und belegte einen Computerkurs. Irgendwann überschritt sie mit einem undeutlichen Vorsatz die Schwelle eines Tierheimes. Als sie es wieder verließ, hatte sie einen alten Hund bei sich, der sein Leben auf einem Balkon verbracht hatte. Er konnte nichts, nicht einmal laufen. Er hatte nur Angst. Sie nannte ihn Viktor, Sieger.

Das dritte Leben der Maike Maja Nowak begann. Sie verdankt es Viktor. Und Wanja. Sie hat Lipowka nie zurückgelassen. Die alte Frau an ihrer Gartenpforte ist Baba Pascha.

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