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Ein Land steht kopf. Angestellte im Amt des tunesischen Premierministers entfernen Porträts von Ex-Staatschef Ben Ali.

© AFP

Vom Winde verweht: Wie sich der Volkszorn der Tunesier entlädt

Nach dem Sturz der Regierung machen viele Tunesier ihrem Ärger über das alte Regime Luft. Villen des Clans der geflüchteten Präsidentengattin werden geplündert, überall in den Vororten der Reichen und Schönen stehen zerstörte Luxusautos.

Kreuz und quer parken die Wagen am Straßenrand, junge Männer, alte Männer und Familien mit kleinen Kindern steigen aus, andere kommen zu Fuß und strömen zu der Öffnung in der langen Mauer: Wo einst ein elektrisches Tor den Zugang versperrte, klafft heute ein riesiges Loch in der Mauer, hinter der die Villa eines der meistgehassten Menschen in Tunesien liegt: Belhassan Trabelsi, der Bruder der Präsidentengattin Leila, einer der raffgierigsten Menschen des alten Regimes, hatte hier in La Sokra, einem wohlhabenden Vorort von Tunis, bis zu seiner Flucht sein Heim. Die Besucher gehen durch die Gartenanlage, die mit ihren Palmen und Bougainvilleabüschen einst ein kleines Paradies gewesen sein muss. Der Swimmingpool liegt verlassen, ein weißer Plastikstuhl schwimmt in dem dreckigen Restwasser am Grund.

In der einstöckigen Villa gibt es nicht einmal mehr einen Plastikstuhl: Sie ist leer geplündert, die Fenster sind zerschlagen, am Boden ist ein Meer aus Scherben, Putzresten und Müll zu sehen. CD-Hüllen liegen herum, darunter der Film „Vom Winde verweht“, die Geschichte des Niedergangs einer anderen Familie. Von Büchern gibt es keine Spur, vielleicht sind sie gestohlen, wahrscheinlich gab es aber gar keine in diesem Haushalt, denn die Mitglieder des Familienclans der ehemaligen Präsidentinnengattin galten als ungebildet und waren in der Bevölkerung als „Analphabeten“ verschrien. Auf der Treppe, die in den ersten Stock führt, herrscht Gedränge, ein junger Mann macht ein Foto. Er lacht die anderen Besucher an, als könne er den Sturz des früheren Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali und seiner Vertrauten immer noch nicht fassen. Aus einem Raum ist lautes Hämmern zu hören, anscheinend gibt es hier noch etwas zu holen: Zwei Männer hauen mit einer Spitzhacke eine Badewanne aus dem Putz heraus.

Überall in den Vororten der Reichen und Schönen, in La Marsa und Gammarth, stehen diese geplünderten Symbole der Raffgier des alten Regimes. Hier hat sich der Volkszorn gegen eine Clique aus mehreren hundert Mitgliedern entladen, die sich hemmungslos Staatseigentum angeeignet und alle lukrativen Konzessionen für den Import von Mercedes, Porsche oder Volkswagen oder für die Errichtung der großen Supermarktketten wie Carrefour oder Géant unter den Nagel gerissen haben. Einige dieser Supermärkte wurden geplündert. Vor anderen stehen heute Panzer der Armee. Zu spät kam die Armee zu den Autodepots im Hafen von Tunis, in La Goulette: Dutzende nagelneue, frisch importierte Autos haben die Menschen aus den Lagern geholt, die der Familie Trabelsi gehörten. Nach einer Spritztour wurden sie einfach am Straßenrand stehengelassen, gegen eine Wand gefahren oder verbrannt. Die Zufahrtsstraßen zum Hafen werden von diesen nagelneuen und ausgebrannten Wagen gesäumt – schrottreif gefahren, die Räder gestohlen. „Besitz des Volkes“ ist auf eine umgeworfene Luxuskarosse vom Typ „Hummer“ gesprüht.

„Die Leute haben gezielt den Besitz der Familie Trabelsi geplündert“, erzählt Mehdi Boujnah, ein Hausbesitzer an der Küstenstraße im Edelvorort Gammarth. Sein Haus hat in der Nacht zum Samstag zwar einen Steinwurf abbekommen, der eine Scheibe zerschlug. Aber geplündert wurde gezielt die übernächste Villa, die Sprösslingen eines Bruders der ehemaligen Präsidentengattin gehörte. „Vor diesem Haus parkten tagein, tagaus mindestens ein Porsche Cayenne, ein Volkswagen Touareg, ein Cadillac und ein 500er Mercedes, neuestes Modell – ein Wagenpark, der in Tunesien umgerechnet über eine Million Euro wert ist“, erinnert sich Boujnah, der Architekt ist und das Haus seiner Eltern übernommen hat. Als die Wagen am Mittwoch, zwei Tage vor der Flucht des Präsidenten, diskret in die Garage und den Garten gefahren wurden, da dachte der Nachbar, dass sich etwas tun würde. „Aber die Wut, mit der die Menschen das Haus am Freitag dann überfallen haben, hat mich doch überrascht.“

Als die Dunkelheit hereinbricht, sind wieder Geräusche aus der geplünderten Villa zu hören. Einige junge Männer zerren eine Tür auf die Straße. „Das ist mein Sohn mit den Söhnen der Nachbarn“, erklärt Boujnah. Sie halten an der Kreuzung Nachtwache, seit vergangenem Freitag, und sperren mit den Türen, einem Bettgestell und Brettern die Straße ab. In jeder Wohnstraße, auch in den einfachen Vierteln, sind diese provisorischen Absperrungen zu sehen, die jungen Männer stehen mit Holzstöcken und Metallstangen bereit, um Angreifer zu vertreiben. Eine Art patriotische Bürgerwehr. „Wir haben nicht mehr wirklich Angst vor Plünderern, die waren schon da und wussten, welches Haus sie auseinandernehmen wollten“, meint der Architekt Boujnah. Angst machen ihnen die Mitglieder von Polizei und Präsidentengarde, die seit Tagen Panik verbreiten, indem sie aus ihren Autos heraus wahllos auf Menschen und Häuser schießen. Etwa einen Kilometer weiter hat die Armee einen Checkpoint errichtet und kontrolliert Autos und Insassen. In der Nacht kreisen Hubschrauber über dem Viertel. Immer wieder kommt es zu Feuergefechten. Aber in Gammarth ist es in der letzten Nacht deutlich ruhiger gewesen als in den Nächten zuvor. „Vielleicht haben die Mitglieder der Präsidentengarde nun auch begriffen, dass es keinen Sinn mehr macht, Terror zu verbreiten“, hofft Boujnah.

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