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Politik: Von Königs Gnaden

Islamisten könnten stärkste Kraft bei Parlamentswahlen in Marokko werden. Die Demokratiebewegung ruft zum Boykott auf.

„Wir gehen nicht wählen“, rufen die Menschen auf den Straßen der marokkanischen Hafen-Großstadt Tanger. „Wir sind kein Stimmvieh.“ Bilder wie diese gibt es seit Monaten im Fernsehen zu sehen: Zehntausende gehen jede Woche in Tanger, der Hauptstadt Rabat, der Geschäftsmetropole Casablanca und anderen Orten Marokkos auf die Straße, demonstrieren für „wirkliche Demokratie“, gegen „Korruption“ und die „Willkür-Herrschaft“ des Königshofes. „Boykottiert die Wahl“, fordert die Reformbewegung „20. Februar“, benannt nach jenem Tag, an dem auch im Reich von König Mohammed VI. der Protest explodierte. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch forderte die Behörden auf, die Drangsalierung der Boykottaufrufer zu beenden. Seit dem 20. Oktober seien etwa 100 Personen von der Polizei verhört worden.

Getrieben von den Demokratiebewegungen vor seinen Palasttoren und in den nordafrikanischen Revolutionsländern Ägypten, Libyen und Tunesien, sah sich Marokkos Monarch gezwungen, die Parlamentswahlen vorzuziehen. Am heutigen Freitag sollen die Marokkaner über ihre Zukunft entscheiden, und der König verspricht, dass die Abstimmung dieses Mal „frei und fair“ ablaufen wird. Die Reformbewegung, deren Proteste von den staatlichen Medien totgeschwiegen werden, kritisiert diesen Wahlgang hingegen als „Farce“, mit der Mohammed lediglich seine Allmacht weiter bemänteln wolle.

Wie in Tunesien, wo die Islamisten die Wahlen vor einem Monat gewannen, befinden sich auch Marokkos Religiöse im Aufwind. Die einflussreichste islamistische Bewegung „Gerechtigkeit und Wohlfahrt“, die seit Jahren verbannt ist und entsprechend bei der Wahl nicht antreten darf, fordert das „Ende der autokratischen Herrschaft“ des Königs und animiert ihre Anhänger ebenfalls zum Boykott. Eine zweite, moderatere islamistische Bewegung, die „Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei“ (PJD), welche die Rolle des Königs öffentlich nicht infrage stellt, darf aber antreten und könnte ziemlich stark werden. Bei der Wahl 2007 hatte die PJD bereits die meisten Stimmen geholt, wenn auch nicht die meisten Mandate errungen und stellt im Parlament die größte Oppositionsgruppe. Stärkste Fraktion wurde damals die konservativ-nationalistische „Istiqlal“-Partei, aus welcher auch der bisherige Regierungschef kommt, Abbas al Fassi (71), der einer Fünf-Parteien-Koalition vorsaß. Nun soll eine vom Königshaus aus acht Parteien zusammengeschweißte „Allianz für Demokratie“ den Aufstieg der Islamisten aufhalten.

Marokko gilt als das ärmste Land Nordafrikas. Jeder fünfte der 32 Millionen Marokkaner hat laut Weltbank weniger als einen Dollar täglich zur Verfügung, die Jugendarbeitslosigkeit ist sehr hoch, Hunderttausende leben in Slums. Auch die Analphabetenrate ist erschreckend: 44 Prozent der Marokkaner können weder lesen noch schreiben.

Nach einer Verfassungsreform, mit der Mohammed VI. auf die Straßenproteste reagierte, muss der König den künftigen Regierungschef zwingend aus der stärksten Parlamentsfraktion berufen. Zudem wird er keine Minister mehr ohne Zustimmung des Regierungschefs entlassen können. In der neuen Verfassung, die von der Protestbewegung als „Scheinreform“ abgetan wird, behält der König aber die Macht über die Armee, das Justizsystem und die islamischen Einrichtungen. Er darf auch weiterhin das Parlament auflösen und bleibt oberste Religionsinstanz.

Auch die Wahlbeteiligung dürfte ein Indikator werden. 2007 gaben nur etwas mehr als ein Drittel der eingeschriebenen Wähler ihre Stimme ab – nun könnten es noch weniger werden. Die Menschen wenden sich von der Politik ab, weil dieselben politischen Eliten seit Jahren ihren Einfluss zementiert haben. Das Wahlrecht verhindert zudem nationale Listen und honoriert Lokalpolitiker, die sich um ihre Klientel kümmern, aber keine nationalen politischen Forderungen erheben. Die mehr als drei Millionen im Ausland lebenden Marokkaner dürfen entgegen früheren Versprechungen nicht wählen.

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