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Politik: Von Neukölln nach Harvard

DIE IGLU-SCHULSTUDIE

Von Dorothee Nolte

Ich bin von Beruf Professor“, sagt der Professor zu einer Schulklasse aus BerlinNeukölln. „Und was wollt ihr werden?“ Die Finger schnellen hoch, die Stimmen überschlagen sich: „Tierärztin!“, ruft Özge, „auch Professor!“, schreit Ahmet, „Richterin!", lacht Dilara. Der Informatiker, der zu einem Workshop mit Kindern aus sozialen Brennpunkten geladen wurde, lächelt wohlwollend. Aber er kennt die Statistik: Die Wahrscheinlichkeit, dass die zehnjährige Özge Tierärztin wird, ist gering. Viel eher ist damit zu rechnen, dass sie keine Gymnasialempfehlung erhält oder sogar ohne Abschluss die Schule verlässt. „Dabei sind das doch fantastische Kinder“, wird der Professor nach dem Workshop sagen, „so wissbegierig!“

Elite trifft Neukölln – das kommt allenfalls im Modellprojekt vor. In der Realität gibt es eher eine wachsende Kluft zwischen Familien, die sich um die Bildung ihrer Kinder überhaupt nicht kümmern, und denen, die beinahe grimmig dafür kämpfen: Bildungsbewusste Eltern verlassen Neukölln oder Wedding, organisieren Kurse in Früh-Englisch und drängeln sich auf den Wartelisten der Europaschulen und Grundschulen mit gutem Ruf. Vielleicht sollten sie nach Baden-Württemberg ziehen? Die erweiterte Iglu-Studie zur Lesefähigkeit der Grundschüler, die gestern vorgestellt wurde, legt das nahe. Der Vergleich von sieben Bundesländern (Berlin war nicht dabei) zeigt: Unter den Zehnjährigen, die in Baden-Württemberg zur Schule gehen, können 21 Prozent sehr gut Texte lesen und interpretieren. Dieses Niveau erreichen in Bremen nur 9 Prozent der Schüler.

Eine ähnliche Rangfolge der Bundesländer kennt man schon – von der Pisa-Studie, die die Lesekompetenz der 15-Jährigen untersuchte. Auch andere Ergebnisse klingen vertraut: Die Chance von Kindern mit Migrationshintergrund, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, liegt fünfmal niedriger als bei deutschstämmigen Kindern. Selbst bei gleicher Lesekompetenz bekommt ein deutsches Kind mit 1,7-mal höherer Wahrscheinlichkeit eine Empfehlung fürs Gymnasium als ein ausländisches. Diese Ungleichbewertung ist übrigens im Musterland Baden-Württemberg besonders ausgeprägt.

Ansonsten aber sind die Süddeutschen vorn. Haben sie Glück, weil ihre Wirtschaft stärker ist, die sozialen Probleme geringer sind? Zum Teil sicher. Die Bildungspolitik hat sich dort früher um Reformen bemüht, die jetzt in anderen Bundesländern auf dem Programm stehen: jahrgangsübergreifender Unterricht, Teamarbeit, Vernetzung von Kitas und Grundschulen, individuelle Förderung. Letztlich aber kommt es auf eins an: Motivation. Motivation. Motivation. Die Überzeugung, dass Lernen wichtig ist, ist offenbar im Süden stärker verbreitet. Lernen, sagen Gehirnforscher, ist ein Trieb, und hohe Erwartungen – nicht schädlicher Druck – sind gut für Kinder. Kinder wollen ernst genommen und gefordert werden. Das geht auch in Berlin. Und das geht auch in bildungsfernen Schichten, wenn sie sich von dem alten Spruch leiten lassen: Meine Kinder sollen es einmal besser haben.

Deswegen sind die Kitas und die Grundschulen so wichtig: Sie haben die Kinder in einem Alter, in dem sie noch begeisterungsfähig sind. Wer von Elite-Unis spricht, muss deswegen Kindergärten gut ausstatten. Wer Gebühren fürs Studium will, sollte die für Kitas streichen. Wer gute Gymnasiasten will, muss in Grundschulen investieren. Und: Wer nach Harvard blickt, sollte sich auch in Berlin-Neukölln umgucken. Denn auch Özge ist eine Kandidatin für die Elite-Uni. Selbst wenn sie niemals Tierärztin wird: Ihre Wissbegier sollte uns kostbar sein.

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