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Von Putins Gnaden: Warum kommt Kreml-Kritiker Chodorkowski gerade jetzt frei?

Der ehemalige Ölmagnat Michail Chodorkowski wird vorzeitig aus der Haft entlassen. Auch andere Regimekritiker kommen frei. Warum gerade jetzt?

Für Kremlkritiker Michail Chodorkowski werden sich bald die Gefängnistore öffnen. Der ehemalige Chef des inzwischen zerschlagenen und quasi verstaatlichten Vorzeige-Konzerns Jukos habe ein Gnadengesuch geschrieben, das er alsbald prüfen und positiv entscheiden werde. Wladimir Putin höchstselbst verkündete die Neuigkeit gleich nach seiner gestrigen Jahrespressekonferenz. Dabei war er auch ausführlich auf die Amnestie zum 20. Jahrestag der russischen Verfassung eingegangen, die die Duma vergangene Woche auf Vorschlag von Putin und dessen Beirat für Menschenrechte und Stärkung der Zivilgesellschaft beschlossen hatte.

Wer profitiert von der Amnestie?

Mit Straferlass können auch die zwei Mitglieder der feministischen Punk-Gruppe Pussy Riot rechnen, die derzeit eine zweijährige Haftstrafe für Rowdytum verbüßen. Sie hatten kurz vor den russischen Präsidentenwahlen im März 2012 in der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche die Muttergottes um Vertreibung Putins gebeten. Das Urteil war weltweit als unverhältnismäßig kritisiert worden, Auch Weltstars wie Peter Gabriel hatten sich für die Freilassung der Frauen stark gemacht: die Performance in der Kirche sei durch das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt.

Sogar die 30 Greenpeace-Aktivisten, die im September versucht hatten, eine russische Ölbohrplattform im Eismeer zu stürmen, um gegen die Ölförderung in der ökologisch hochsensiblen Arktis zu protestieren, werden durch die Amnestie freikommen. Dabei sah es erst gar nicht gut aus für sie. Der Straferlass sollte nur für bereits rechtskräftig Verurteilte gelten, nicht jedoch für solche, gegen die noch ermittelt wird. In letzter Minute beschloss die Regierungspartei „Einiges Russland“ die Putin-Vorlage dahingehend zu erweitern, dass der Straferlass auch für noch schwebende Verfahren angewendet werden kann – auch für die Umweltschützer.

Putin begrüßte die Änderung ausdrücklich. Er habe hohe Achtung vor allen, die die Natur schützen. Es sei jedoch inakzeptabel, wenn die Umweltschützer dabei zu Methoden greifen, mit denen sie vor allem Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache betreiben. Auch sei nicht auszuschließen, dass die Greenpeace-Leute für ihre Aktion Geld von der Konkurrenz bekommen haben. Gemeint waren jene westlichen Unternehmen, die nicht in der russischen Arktis bohren dürfen. Die von Greenpeace attackierte Bohrinsel gehört der Öltochter von Staatskonzern Gasprom, die dort 2014 zusammen mit dem britisch-niederländischen Ölmulti Shell die Förderung aufnehmen will.

Wieso kommt auch Chodorkowski frei?

Chodorkowski fällt nicht unter die Amnestie. Sie erstreckt sich lediglich auf geringfügige gewaltfreie Straftaten, von ihr profitieren daher vor allem Kleinganoven. Zwar hatte die Duma im Sommer bereits eine Amnestie für Wirtschaftsvergehen beschlossen, doch von der profitierten nicht einmal tausend einschlägig Bestrafte. Chodorkowski galt von vornherein als chancenlos, da ihm schwerste Wirtschaftsvergehen vorgeworfen wurden. 2006 war er wegen Steuerhinterziehung und Betrug zu acht Jahren Haft und in einem zweiten Verfahren 2008 wegen Diebstahls von Rohöl und Geldwäsche zu 14 Jahren Haft verurteilt worden. Das Strafmaß wurde später mehrfach verringert, er wäre im Herbst 2014freigekommen.

Regimekritiker im In- und Ausland vermuten politische Hintergründe hinter der Verurteilung. Chodorkowski hatte die Opposition unterstützt und war den Geschäftsinteressen von Putins Amigos in die Quere gekommen. Russische Menschenrechtler glaubten daher, Chodorkowski werde solange im Lager fernab von Moskau sitzen, wie Putin im Kreml. Umso überraschender die gestrige Wendung, zum Guten, die Putin selbst verkündete.

Was sind Putins Motive?

Die Mehrheit der Beobachter glaubt, dass Putin im Vorfeld der Olympischen Winterspiele in Sotschi um ein positives Russlandbild bemüht ist. Vor allem aber dürfte es die anhaltende Kapitalflucht aus Russland sein, die den Kremlherrscher dazu zwingt, das Investitionsklima zu verbessern. Denn ohne ausländisches Kapital und westliches Knowhow kann Russland die längst überfällige Modernisierung der Wirtschaft einschließlich Wende vom Rohstoffexporteur zum High-tech-Produzenten nicht stemmen. Langfristig fehlt dann auch das Geld für Putins ambitionierte Sozialprogramme.

Zwar sprachen auch Kremlkritiker von einer „guten Nachricht“, darunter auch Wirtschaftswissenschaftler Sergei Gurijew, doch der Zweifel bleibt. Gurijew gehört zu jenen fünfzehn unabhängigen Experten, die Ex-Präsident Dmitri Medwedew 2010 um ein unabhängiges Rechtsgutachten zu den Chodorkowski-Urteilen gebeten hatten. Die Urteile müssten revidiert werden, so das Fazit der Gutachter, die danach selbst Besuch von der Staatsanwaltschaft bekamen. Der Vorwurf: Das Gutachten sei mit illegalen Geldern Chodorkowskis bezahlt worden. Die Chancen für ein drittes Verfahren – wegen Geldwäsche – gegen Chodorkowski stünden daher gut, freute sich erst vergangene Woche der Vizechef der Ermittlungsbehörde bei der Generalstaatsanwaltschaft in Moskau. Ob Chodorkowskis Begnadigung bei ihm Beißhemmungen hervorruft, bleibt abzuwarten.

Unklar ist auch, ob ein Gnadengesuch gleichbedeutend mit Schuldeingeständnis ist. Ja, sagte Putins Pressesprecher. Nein, glaubt der Vorsitzende des parlamentarischen Rechtsausschusses, Pawel Kraschenninikow. Doch selbst dann, wenn sich dessen Ansicht durchsetzen sollte: Etwas bleibt immer hängen. Für Vorbestrafte gibt es Sperrfristen bei der Bewerbung um öffentliche Ämter. Doch Chodorkowskis Chancen, Putins Nachfolger im Kreml zu werden, tendieren selbst bei fairen und freien Wahlen ohne „Filter“ gegen Null. Das russische Volk liebt seine Märtyrer, würde ihnen jedoch nie die Macht anvertrauen.

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