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Vor 20 Jahren: Die Stunde der Offensive

Kohls Zehn-Punkte-Plan zur deutsch-deutschen Zukunft überraschte alle – und war schon bald Makulatur.

Von Matthias Schlegel

„Hätte ich die Zehn Punkte innerhalb der Koalition oder gar mit unseren Verbündeten abgestimmt, wären sie am Ende völlig zerredet worden. Jetzt war nicht die Stunde der Bedenkenträger, jetzt war die Stunde der Offensive.“ In seinem Buch „Erinnerungen“ begründet Helmut Kohl mit diesen Worten, warum er vor 20 Jahren mit seinem Zehn-Punkte-Plan alle überraschte – Mitstreiter in der Union, den Koalitionspartner, erst recht die Opposition, aber auch die wichtisten internationalen Verbündeten.

Nur US-Präsident George Bush war in einem elfseitigen verschlüsselten Schreiben vorab informiert worden, den CDU- Vorstand hatte der Bundeskanzler in groben Zügen in Kenntnis gesetzt. Für alle anderen war Kohls Fahrplan für die Reise in Richtung einer deutsch-deutschen Föderation, den er in seiner Regierungserklärung zum Auftakt der Haushaltsdebatte am 28. November 1989 im Bundestag vorstellte, eine sensationelle Neuigkeit.

Angesichts der diffusen Situation in der DDR und der anhaltenden Fluchtbewegung sei es „der historisch richtige Zeitpunkt“ gewesen, in dieser Frage die Führung zu übernehmen, sagt Horst Teltschik, der damals engster Berater Kohls und seit 1983 Vizechef des Bundeskanzleramtes war, dem Tagesspiegel. Bush selbst habe schon vorher über die deutsche Einheit sinniert, auch Mitterrand habe sie nicht ausgeschlossen. „Es musste Ordnung in diese Diskussion kommen“, sagt Teltschik.

Fünf Tage vor der Bundestagssitzung beauftragte ihn Kohl, den Plan auszuformulieren. „Ich habe fünf, sechs Leute zum Brainstorming zusammengerufen, um die Struktur der Rede zu diskutieren“, erinnert sich der Berater. Am Samstagnachmittag wurde das Manuskript zu Kohl nach Oggersheim gebracht, der sich noch mit einigen Vertrauten beriet und kleine Änderungen einbrachte. Der Kanzler ruft Teltschik am Sonntagmittag an, am Montagvormittag arbeitete der Berater die Änderungswünsche Kohls ein – einen halben Tag vor der Sitzung war die Rede fertig.

„Im Bundestag wurde sie fast euphorisch aufgenommen“, sagt Teltschik. Kohl habe ihm erzählt, selbst der nichtsahnende Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher habe im Beisein von Finanzminister Theo Waigel zu ihm gesagt: „Helmut, das war eine große Rede.“ Später meldete Genscher allerdings Bedenken an, weil in dem Papier die Oder- Neiße-Grenze nicht ausdrücklich als polnische Westgrenze anerkannt wurde.

Dass die britische Premierministerin Margaret Thatcher von Kohls Tempo nicht begeistert war, hatten die Initiatoren erwartet. „Überrascht waren wir von der kritischen Reaktion Mitterrands“, sagt Teltschik. Frankreichs Staatschef habe sich noch kurz zuvor bei den deutsch-französischen Konsultationen sehr positiv zur deutsch-deutschen Frage geäußert. Und auch der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow musste von Kohl Mitte Dezember in einem Brief besänftigt werden.

Im ersten Punkt nahm Kohl die vom neuen DDR-Regierungschef Hans Modrow ins Gespräch gebrachte „Vertragsgemeinschaft“ auf. „Wir wussten zwar nicht, was das ist“, sagt Teltschik, „doch wir wollten Modrow entgegenkommen.“ Tatsächlich habe der SED-Mann den ersten vier der zehn Punkte sofort zugestimmt. Modrows Hoffnung allerdings, dass die Menschen ihre DDR als souveränen Staat behalten wollten, erwies sich schon wenig später als Fehleinschätzung.

In einem Punkt sieht Teltschik das Zehn-Punkte-Programm häufig falsch interpretiert: Es stehe nichts von einer Konföderation in dem Papier. Denn die hätte einen neuen Status quo der Zweistaatlichkeit geschaffen. Es sei lediglich von „konföderativen Strukturen“ die Rede, die „als Übergang gedacht waren, um den Prozesscharakter deutlich zu machen“.

Und: „Wir hatten bewusst keinen Zeitplan in das Programm geschrieben“, sagt Teltschik. Die Strategie sei nicht für ein Jahr gedacht gewesen, sondern für einen längerfristigen Zeitraum. Keiner habe damals wissen können, dass die DDR-Bürger dann selbst einen solchen Zeitdruck in Richtung deutsche Einheit aufbauen würden. „Aber spätestens bei Kohls Besuch in Dresden am 19. Dezember war klar: Das Ganze geht viel rascher als gedacht.“ Damit war aber auch klar: Der Zehn- Punkte-Plan war praktisch schon nach drei Wochen Makulatur geworden.

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