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Politik: Vor 30 Jahren erträumten sich einige DDR-Jugendliche das Jahr 2000

Sie wollten so vieles: in die Antarktis fliegen oder als Kindergärtnerin sozialistische Menschen erziehen. Heute sind die Träumer fast 50 - und trafen sich zu einer Bilanz.

Sie wollten so vieles: in die Antarktis fliegen oder als Kindergärtnerin sozialistische Menschen erziehen. Heute sind die Träumer fast 50 - und trafen sich zu einer Bilanz.Kerstin Decker

Ein Bankett für 500 Träumer. Beschlossen vor dreißig Jahren. Eine Idee für Surrealisten?

Aber würden sich Surrealisten in der Mensa der Humboldt-Universität treffen? Es ist genauso laut wie früher, als wir uns diesem Ort nur aus Einsicht in die biologische Notwendigkeit näherten. Eher lauter. Der alte Mensa-Geruch umkreist die Tische mit Salaten, Braten und Kuchen. Niemand bemerkt ihn. An den Wänden dreißig Jahre alte Träume: "Ich arbeite als Leiter einer Forschungsgruppe an der Herausgabe einer Geschichte der Ökonomie des Sozialismus 1920-2000."

Träumte man so mit 17 in der DDR das Jahr 2000?

Sie machen Notizen?, fragt Anteil nehmend ein distinguiert wirkender Herr mit jener Gelöstheit, wie sie den Ausnahmezuständen des Lebens vorbehalten ist. Etwa Banketten, zu denen man vor dreißig Jahren eingeladen wurde. Also auch er! Feingliedrig, schwarzer Anzug, Typus Steuerberater. Waren Steuerberater auch mal 17? Der Mann zieht zwei gefaltete Zettel aus der Brusttasche. Seinen Brief: "Die tägliche Arbeitszeit reicht gar nicht aus, so kommt es jetzt öfters vor, dass wir länger arbeiten ... , und im Jahre 2000 treffen wir uns alle wieder und feiern den Sieg der kommunistischen Lehren." - Nun ja, zögert er. Am Revers seines Jacketts, da, wo manche früher ein Parteiabzeichen trugen, steckt eine Sicherheitsnadel. Wissen Sie, Lehren siegen nie! Überhaupt nie! Aber im Brief stehe auch, im Jahr 2000 sei er ein Maler und nun solle die Gesprächspartnerin mal raten, was er ... - Maler? - Otto Sander Tischbein, Maler! Der falsche Steuerberater deutet eine Verbeugung an. Tischbein, wie der Malerfreund Goethes, ganz genau. Und im letzten Jahr habe er dann gemeinsam mit der Tischbein-Familie, die ihn übrigens adoptierte, die Tischbein-Gesellschaft gegründet. Was in gewissem Sinne viel wichtiger sei als der Kommunismus. Schon weil Ideen nie siegen, aber dafür Maler. Egon Krenz bahnt sich einen Weg durch die Menge, genau wie früher.

Und ich dachte, der sitzt, sagt jemand hörbar enttäuscht. Krenz trägt auch wieder sein altes FDJler-Lächeln, bei dem man immer ein wenig an Kannibalismus denken musste.

Nein, sie sind keine Surrealisten. Oder Surrealisten der dritten Art. Redakteure der FDJ-Zeitung "Junge Welt" erfanden 1970 dieses Preisausschreiben und das Bankett. Es handelte sich um eine Verzweiflungstat. Lenin wurde 1970 gerade 100. Junge Geigenschülerinnen verpflichteten sich "anlässlich des 100. Geburtstages von Wladimir Iljitsch Lenin die Bogenführung auf meiner Geige zu verbessern". War das genug? Niemals, dachten die Redakteure der "Jungen Welt" und veröffentlichten am 17. April 1970 anlässlich Lenins Geburtstag den Aufruf zum öffentlichen Träumen: "Was tust Du am Donnerstag, dem 6. Januar des Jahres 2000?" Über 2000 Briefe kamen. Und 500 Preisträger wurden zum Festessen im Jahr 2000 geladen. Das war, als die "Junge Welt" noch 450 000 Zeitungen täglich druckte statt der 16 000 von heute. Trotzdem! Jetzt erst recht! Das letzte Aufgebot der "Jungen Welt" hat Prinzipien. Über 200 Träumer sind da, dreißig Jahre älter.

Preisausschreiben muss man gewinnen. Das Verständnis dieses Tatmotivs erleichtert alles. Träume aus lauter Alltag. Kleine-Leute-Träume. "Heute, am 6. Januar 2000, stehe ich um 5.00 Uhr auf, um pünktlich auf der Arbeit zu sein." Oder: "Nach tiefem, gesunden Schlaf erwache ich am Morgen, ohne Wecker stets um 7.30 Uhr. Das kommt durch die Schlaftabletten, die es in verschiedenen Sorten je nach Schlafstundenanzahl zu kaufen gibt." Und keiner dachte, dass man im Kommunismus ausschlafen könne. Verräterisch. Karl Eduard von Schnitzler kommt mit energischen Schwüngen seines Stockes geradewegs auf die Berichterstatterin zu. Man müsste ihn das jetzt fragen. Kommunismus für Unausgeschlafene, ein Theoriefehler? Aber Schnitzler hat gerade keine Zeit. Er sucht "Junge Welt"-Redakteure von früher.

Nicht einer, der am 6. Januar 2000 nach Las Vegas reiten wollte, die Sonne putzen.

Doch einer, vielleicht: "Heute ... beginne ich meinen Urlaub". Unterschrift: Peter Wawerzinek, Rerik, 15 Jahre. Inzwischen fangen Wawerzineks Texte anders an: "Vorweg: Jeder kennt mich. / Ich brauchte nicht jeden zu kennen. / Meine Kindheit war verschwiegen und blond. / Mein Vater ging an einem Donnerstag durch den Flur nach Malta." Peter Wawerzinek aus Rerik ist Dichter geworden. Kultdichter in Berlin. Gesucht wird ein Dichter. Einer, der anders träumte.

Jetzt sind die Träumer fast 50, damals waren viele siebzehn. Genau das Alter, in dem man Fast-Fünfzigjährige für mindestens scheintot hält. Damals glaubten sie, heute Häuser auf dem Grund des Mittelmeeres zu haben und dass die Ostsee mit Infrarot-Strahlen beheizt würde. Wie spricht man Menschen an, die sowas dachten und aussehen, als könnten sie es nie gedacht haben?

Drei Frauen in Glanz-Shirts mit roten Stickern, ein Bier in der Hand. Rote Sticker - das sind die Preisträger. Birgit Willer aus Chemnitz stellte sich 1970 vor, Chemikerin zu werden. Nicht Schauspielerin oder Rocksängerin, nein, Chemikerin. In Karl-Marx-Stadt gab es schon immer viel mehr Chemikerinnen als Schauspielerinnen und Rocksängerinnen. Seit Beginn des neuen Jahrtausends ist Birgit Willer, Chemikerin, arbeitslos. Maschinenbauerin Monika Berndt lächelt sie mit jenem stahlblauen Optimismus an, den schon die DDR ausstrahlte. Vor dreißig Jahren träumte Monika Berndt von einem stromlienförmigen Bus. Sie wohnt auch in Chemnitz. Nein, Maschinenbauerin sei sie nicht mehr, damit war es gleich 1990 - Monika Berndt imitiert die Akustik einer dramatischen Reifenpanne - Schlussaus. Nie im Leben hätte sie das geträumt. Aber auch nicht, dass sie mal zum Fernsehen geht. "Fernsehen für Chemnitz". Nun gut, als Buchhalterin. Die Dritte ist Christiane Junginger. Sie kommt gerade aus Leverkusen. Oder war es Wanne-Eickel?

1984 ist sie aus der DDR weggegangen. Wegen der Politik? Nein, sagt Christiane aus Gera, jetzt Leverkusen oder Wanne-Eickel, wegen der Liebe. Ein Mann wollte mich heiraten! Sagt es mit einer so seltsamen Betonung auf der ersten Satzhälfte, dass jenes "ein Mann" wie der unwahrscheinlichste aller Heirats- und Wechselfälle des Lebens klingt. Was sie vor dreißig Jahren geträumt hat, weiß Christiane Junginger nicht mehr. Da war sie zwölf. Und hat trotzdem gewonnen.

"Auf der Erde gibt es nur noch sozialistische Länder, und Europa hat sich zu einer Unionsrepublik zusammengeschlossen." Noch so ein Traumsplitter an der Mensawand. Davor steht Peter Feist, der Neffe von Margot Honecker und verschüttet fast sein Bier vor Lachen. Ob er Wawerzinek, den Dichter, kennt? Wawerzinek kommt also am 6. Januar 2000 aus Rerik nach Berlin: Hier "steigen wir in ein Strahltriebflugzeug ein und fliegen direkt nach Antarktis. Unser Flug führt uns über die vom Kapitalismus befreiten Länder". Dann die Ankunft in der gut geheizten Antarktis: "Nachdem wir uns eingerichtet haben, sitzen wir gemeinsam vorm Fernseher ..." - Selbst die Träume der Dichter sind eben manchmal uralt, wenn die Dichter noch sehr jung sind. Vielleicht muss man erst richtig alt werden, um jung zu träumen. Karl Eduard von Schnitzler wartet im zugigen Flur auf sein Taxi. Er ist schon sehr alt. Und hält das Träumen wohl noch immer für eine Erfindung des Klassenfeindes.

Vor einer studentischen Anzeigentafel ("Verkaufe BVG-Monatskarte ab 50,- DM!") steht ein Mann mit Augenbrauen wie Theo Waigel. Hans-Dieter Volk, der einzige, dem schon vor dreißig Jahren die Dramatik des Geschehens sehr bewusst war: "Die Schläfen haben sich ganz schön gelichtet. Hier und da blitzen graue Strähnen in dem an sich noch vollen Haar - man wird eben alt." Und dann behauptet er selbstgewiss, dreißig Jahre später "eine kluge attraktive Frau" zu besitzen, dazu "zwei kräftige, gescheite Jungen". - Alles eingetroffen!, sagt er. Der Brief fährt fort: "Ich selbst bin Chefarzt des hiesigen Krankenhauses, eines der modernsten der Welt - was will ich mehr?" Träume eines 17-Jährigen. Er sagte nicht: Ich werde Arzt! Er sagte: Ich werde Chefarzt! - Ja, was will ich mehr?, wiederholt jetzt, dreißig Jahre danach, Hans-Dieter Volk, 47 Jahre alt und Chef der Immunologie der Charité.

Aber beinahe wäre das alles nichts geworden. Fast wäre Hans-Dieter Volk Anfang der Neunziger ausgewandert. Nach Amerika oder Neuguinea, überall hin, bloß nicht in diesem neu vereinigten Deutschland bleiben, wo sie gerade seinen Oberarzt entließen! Einen der allerbesten, sagt Volk. Wegen Staatsnähe, weil er mal in der Uni-Leitung war. Volk ging zu Diepgen, Stolpe, de Maiziere. Umsonst. Noch heute verdienen Mitarbeiter bei ihm weniger als bei einem "Westchef". Im selben Haus.

Im provisorischen Pressebüro findet der Dienst habende junge Mann, dass in den Briefen doch irgendwie dasselbe drinstehe. Und abends gehen sie fast alle in die Oper. "Freischütz" oder "Fidelio". Oder "Nathan der Weise" mit Manfred Krug. Woran man erkennt, dass es für manche Dinge endgültig zu spät ist. Er jedenfalls gehe jetzt zum Salsa. Salsa statt Fidelio!

Trotzdem seltsam, wie viele das geworden sind, was sie mit 17 träumten. Maler, Arzt, Dolmetscherin. Eine Frau ganz in Schwarz mit aufgelösten Haaren liest zum ersten Mal wieder ihren dreißig Jahre alten Brief. Liest, wie sie als Kindergärtnerin, eine "bewusste Frau und Genossin", am 6. Januar des Jahres 2000 "die Kleinen" zu sozialistischen Menschen erzieht. O nein!, ruft sie nach jedem zweiten Satz. Sie ist nicht Kindergärtnerin geworden, Genossin auch nicht. Sie sieht aus wie ein großer trauriger Nachtfalter.

In einer Fensternische liegt ein junger Mann auf dem Rücken und liest "Die Revolution frisst ihre Kinder". Wawerzinek, der Dichter, ist nicht zu sehen. Wie es dann wirklich kam, träumte keinem.

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