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Auch die Gegner der Studentenbewegung gingen 1968 auf die Straße.

© picture alliance / zb

Vor 50 Jahren: Was die 68er bewegten

Ohne die Studentenrevolte hätte es weder Ostpolitik noch Wiedervereinigung gegeben. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Nowakowski

Geschichte hat kein Ende. Erst recht nicht, wenn sie eine Gesellschaft noch umtreibt wie diese Revolte, die mit Protest, Provokationen und Gewalt die Republik erschütterte. Eine zge Generation stellte 1968 die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal infrage. Der Umsturz ist den Studenten nicht gelungen – worüber heute viele Aktivisten froh sind – ihre Impulse aber haben die Bundesrepublik nachhaltig verändert. Für die AfD sind die 68er deshalb als Feindbild noch aktuell. Gleiches gilt für Alexander Dobrindts Ruf nach einer konservativen Revolution, um sich des angeblichen Erbes der 68er, einer links-grünen Dominanz und dem Zug in den bevormundenden Staat, zu erwehren.

Befeuert vom weltweiten Protest gegen den Vietnam-Krieg der USA, mit dem man sich eins fühlte, war ’68 auch eine individuelle Befreiung. Als Katalysatoren eines globalen Aufbruchs ins Neue kamen eine unangepasste Musik, die der Revolte den Sound gab, und ein neuer Schönheitsbegriff mit Mini-Rock und langen Haaren hinzu. Die protestierenden Studenten haben mit ihrer radikalen Revision der deutschen Wirklichkeit eine obrigkeitsfixierte Nachkriegsruhe beendet und eine zivilgesellschaftliche Wende angestoßen. Allein haben die Aktivisten das nicht vermocht, auch wenn die beim langen Marsch durch die Gesellschaft erfolgreichen 68er das gerne selbstverklärend so sehen möchten.

Die Studenten haben die obrigkeitsfixierte Nachkriegsruhe beendet

Tatsächlich hatte ein Modernisierungsschub schon begonnen. Die Zeit war reif für die Häutung einer zu eng gewordenen Republik. Im Rückblick zeigte sich, dass die zunehmend als bleiern empfundene Adenauerzeit bereits in Bewegung gekommen war. Die Macht der Bilder, von den Happenings der Kommune I bis zu Sit-ins und lauten Provokationen, prägten zwar die öffentlichen Bilder. Ebenso wichtig aber war die stille Revolution der normalen Menschen. Erst diese, durch die 68er beschleunigte, alle Lebensbereiche durchdringende Selbstvergewisserung und Befreiung aus den muffigen Verhältnissen, die nach dem Krieg den Neuanfang mit Not, Entbehrung und verdrängter Schuld begleitete, hat Deutschland zu einem offenen und liberalen Staat wachsen lassen.

Die Revolte war dagegen anfänglich auf die Universitäten beschränkt, und die Studenten – die 1967 teilweise noch mit Krawatte demonstrieren gingen – stammten vielfach aus gutbürgerlichen Kreisen. Eine Vermittlung zur Bevölkerung fehlte völlig, was zu dem Hass beitrug, der den Protestierenden entgegenschlug und im Attentat auf Rudi Dutschke seinen Ausdruck fand.

Die Provokationen und der Diskurs der Studierenden aber haben andere ermutigt und dazu beigetragen, dass Bundeskanzler Willy Brandt bei seiner Regierungserklärung 1969 „mehr Demokratie wagen“ konnte. Ohne dieses neue Denken, dem die Studentenbewegung Raum gab, hätte es keine neue Ostpolitik, keine Aussöhnung mit Polen und keinen Wandel durch Annäherung gegeben, an deren Ende die deutsche Einheit stand.

Endlich zerbrach das unsägliche Schweigekartell über die Nazi-Verbrechen

Die Öffnung der Gesellschaft, die mit den 68ern einen entscheidenden Impuls erhielt, hat auch dazu beigetragen, dass Millionen Kinder aus Arbeiterfamilien den Mut bekamen, zu studieren oder sich auf dem zweiten Bildungsweg zum Abitur zu kämpfen. Es zerbrach auch das unsägliche Schweigekartell über die Nazi-Verbrechen, dass die wieder in Amt und Würden gelangte Täter-Generation in Nachkriegs-Deutschland etabliert hatte.

Zu 1968 gehört als dunkler Schatten aber eine elitäre Überheblichkeit und ein revolutionärer Rigorismus. Nach dem Zerfall der antiautoritären Bewegung hat sich dies in den Kommunistischen Kaderparteien enthüllt, als mit stalinistischer Borniertheit das angeblich unwissende Volk zum Glück gezwungen werden sollte. Der brutale Terror der RAF gründete ebenfalls in diesem furchtbaren Elitendenken – mit dem die Protagonisten ihren Nazi-Vätern mehr glichen, als sie sich selbst zugestanden. Auch der linksradikal verbrämte Antisemitismus und die Israel-Feindlichkeit gehört zum bösen Erbe der 68er.

Zum bösen Erbe der 68er gehört der brutale RAF-Terror

Weit prägender und nachhaltiger für den Wandel der Gesellschaft als die Straßenschlachten, Teach-Ins oder Anti-Springer-Kampagnen waren freilich die Impulse, die von den aufbegehrenden Frauen im Schatten der linken Patriarchen entstanden. Liberale Kindererziehung, Gleichberechtigung, partnerschaftliche Beziehungen, sexuelle Selbstbestimmung und berufliche Selbstverwirklichung gehören zum zentralen Erbe der Studentenbewegung. Der stille Kulturkampf ging bis in die Ehebetten, wo die Deutschen dank Oswald Kolle über Sexualität weit mehr diskutierten, als dies die Kommune I jemals geschafft hätte.

1968 wurde alles infrage gestellt – dies auszuhalten, das hat sich als Stärke unserer vielfältigen Gesellschaft erwiesen. Die muss sich aktuell der Populisten erwehren, die auf besondere Weise die bekämpften 68er beerbt haben, als sie deren Konzept der Gegenöffentlichkeit für ihre angeblich unterdrückten Wahrheiten nutzen. Die offene Debattenkultur, die selbstbewusst genug ist zur steten Selbstkorrektur, muss immer wieder neu verteidigt werden. Wenn es ein Vermächtnis der 68er gibt, dann dieses.

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