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Verliebt in Europa? Vielleicht. Aber in welches?

© Daniel Leal-Olivas/AFP

Vor dem Brexit-Referendum: Warum Europa eine doppelte Illusion ist

Auch wenn das britische Referendum aus der Zeit gefallen scheint, weil die EU nicht mehr das Tory-Schreckgespenst von einst ist: Die Briten handeln wegweisend. Ein Essay.

Ein Essay von Moritz Schuller

Als Boris Johnson vor einigen Wochen sagte, die Europäische Union sei wie Hitler, weil sie einen Superstaat in Europa errichten wolle, waren für Donald Tusk „die Grenzen überschritten“. Aber was für Grenzen teilen sich der ehemalige Londoner Bürgermeister Alexander Boris de Pfeffel Johnson und der polnische Tischler-Sohn und EU-Ratspräsident Donald Tusk?

Als der eine in Polen gegen die Kommunisten kämpfte, soff der andere im Oxforder Bullingdon Club Champagner; der eine war Journalist bei der Samorzadnosc und Vorsitzender des Betriebskomitees der Solidarnosc, der andere Korrespondent des „Telegraph“ in Brüssel und dachte sich dort, wie es heißt, die meisten Geschichten selber aus. Während der eine Russisch spricht, liest der andere Homer im Original. Ist es nicht nicht vielmehr so, dass Johnson mit seiner Hitler-Bemerkung überhaupt erst jene Grenze überschritten hat, hinter der sich in Europa der gemeinsame Raum öffnet? Das heutige Europa beginnt mit Hitler und mit dem Reden über Grenzen, über politische, historische, kulturelle Grenzen. Es endet dort nicht.

Schon Margaret Thatcher und Helmut Kohl konnten sich nicht darüber verständigen, wo ihre gemeinsamen Grenzen verlaufen. Damals begann, wie in einer schlechten Ehe, das Nebeneinanderherleben, in der Hoffnung, der andere möge zur Vernunft kommen, oder irgendwie verschwinden. In jener Atmosphäre schlug der ehemalige Finanzminister Norman Lamont vor, die Briten über die EU abstimmen zu lassen. Damals nahm ihn keiner ernst.

Dass es nun, 22 Jahre später, dazu kommt, erklärt, warum nach all dem Schweigen die aktuelle Debatte so unzeitgemäß wirkt. Sie ist schlicht von damals übriggeblieben. Auch wenn die Kosten des Ausstiegs in der Währung der Gegenwart berechnet werden, geht es im Kern um den alten Ballon, in den beide Seiten über die Jahre immer weiter Luft geblasen haben.

Auf seiner einen Seite steht „Wir wollen endlich unser Geld zurück“, auf der anderen „Wir wollen endlich Klarheit über Europa“. Doch dieser Ballon wird am Donnerstag platzen, denn darum geht es nicht mehr in Europa. Das Referendum ist vor allem deshalb unvernünftig, weil es argumentativ und affektiv von einem politischen Zustand lebt, der nicht mehr existiert. Es geht heute nicht mehr um mehr oder weniger Europa – das war die Debatte damals – es geht um ein anderes Europa.

Störrische Briten und glühende Europäer - das war einmal

Der Deal, den David Cameron im Vorfeld des Referendums mit den übrigen EU-Staaten ausgehandelt hat, ist noch Ausdruck dieses alten Beziehungsmodells, aus dem beide Seiten ihre Identität und ihre politischen Vorteile gezogen haben: hier die störrischen Briten, die sich abgrenzen; dort die glühenden Europäern, die sich dem Abgrenzen widersetzen. Doch dieses Narrativ lebt von einer Illusion, der Illusion von einer mächtigen Europäischen Union.

Heute muss man eher an das Verständnis der Briten für Fair Play appellieren, nicht mehr auf etwas einzuschlagen, das bereits am Boden ist. Die EU sitzt längst, um in der historischen Analogie von Boris Johnson zu bleiben, im Bunker und ruft nach der Armee Wenck. Das föderal-feudale, das totalitäre Europa, das vor allem die älteren Briten ablehnen, wird es nicht mehr geben können. Das Tory-Schreckgespenst von einst zittert inzwischen vor sich selbst: kein Wachstum, politisch zerstritten, und unter Druck gesetzt von Russland und den Flüchtlingen. Gerade bei der Bedrohung durch Putin, die den Engländer mehr als anderen bewusst ist, zeigt sich, dass Europa nicht zu stark, sondern zu schwach ist.

Warum war Cameron nicht dabei, als Angela Merkel und Francois Hollande mit Wladimir Putin über die Ukraine verhandelt haben? Hält er Russland lediglich für ein Problem der Euro-Zone? Das geopolitische Machtgefüge hat sich in den vergangenen 22 Jahren verändert. Doch die britischen Brexit-Befürworter betrachten sich weiter als fremdbestimmt und definieren die Größe ihres Landes weiterhin relativ zum Rest von Europa – je autonomer von Brüssel, desto besser. Das ist angesichts der Krise der EU absurd. So blicken sie mit der gleichen verbogenen Brille auf die Welt wie die Junckers und Tusks: Mit ihr auf der Nase sieht man Europa ganz scharf, den Rest der Welt aber nur verschwommen.

So wird auch der innerbritische Diskurs über Identität und Zusammengehörigkeit, über das Unbehagen am Zustand der modernen Gesellschaft über Brüssel gespielt. Für den Ukip-Abgeordneten Douglas Carswell ist ein Euroskeptizismus das Produkt der Moderne, „die rationale Reaktion auf eine sich verändernde Welt“. In der Debatte spielte diese entscheidende Frage, wie wir uns in global vernetzten Zeiten sinnvoll politisch organisieren sollen – die natürlich auch für alle anderen EU-Länder von Bedeutung ist – leider keine Rolle. Dass alle Antworten in der Abkehr von den politischen Institutionen Europas liegen, ist jedoch eine Illusion.

Die EU ist näher an Großbritannien als je zuvor

Mit Booten werben Anhänger eines Austritts Großbritanniens aus der EU auf der Themse in London für ein entsprechendes Votum.
Mit Booten werben Anhänger eines Austritts Großbritanniens aus der EU auf der Themse in London für ein entsprechendes Votum.

© Niklas Halle'n/AFP

Die Illusion ist eine doppelte, denn die glühenden Europäer verteidigen längst ein Europa, das nur noch in ihren Köpfen existiert. Die Briten sind nicht mehr allein mit ihrem Unbehagen, und damit gilt nicht mehr, was lange galt, dass ein Europa ohne die Briten seinen Weg wüsste. Die Flucht nach vorn, also das „mehr“ Europa, ist auch ohne Briten nicht mehr möglich.

Es gibt heute, schrieb der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine erst vor ein paar Tagen in der „FAZ“, „offensichtlich keinen demokratischen Weg zu einer stärkeren Integration“. Erzwingt man sie durch technokratische Schritte, würde der Graben zwischen Elite und Volk noch tiefer, „es wüchse die Gefahr“, schreibt der sozialistische Politiker, „dass am Ende ein allgemeiner Aufstand der Völker alles umstürzt“. 33 Prozent aller Europäer würden heute bei einem Referendum für den Austritt ihres Landes aus der EU stimmen, laut einer Umfrage des britischen Umfrageinstituts Ipsos Mori, in Italien sind es sogar 48 Prozent, in Frankreich immerhin 41 Prozent.

Im Warten darauf, dass die britische Skepsis verschwindet, hat sie sich über ganz Europa ausgebreitet: Großbritannien ist in diesen Jahren größer geworden, und Europa kleiner. Den Streit um den Euro, den die Briten verloren hatten, haben sie im Nachhinein gewonnen. Der Spielraum der EU ist in der Vergangenheit nicht durch die Briten kleiner geworden, sondern durch die Fehler, vor denen die Briten stets gewarnt haben. Wenn heute dieselben Leute, die gerade erst behauptet haben, dass der Euro vernünftig sei, erklären, dass ein Verbleib Großbritanniens in der EU vernünftig ist, glaubt ihnen verständlicherweise niemand. Obwohl sie diesmal Recht haben.

Es wird über die Vergangenheit abgestimmt

Vermutlich sähen die Umfragen zum Brexit anders aus, würde Helmut Kohl die Größe aufbringen und zugeben, dass seine Herablassung gegenüber den britischen Euro-Warnungen ein Fehler war. Aber nicht einmal die nächste Generation hat offenbar die Kraft, sich von der europäischen Illusion zu lösen: In Brüssel, verkündete gerade der EU-Parlamentarier Alexander Graf Lambsdorff, schaue man dem Referendum ohne große Sorge entgegen. Dort könne man sich die EU auch ohne Großbritannien vorstellen. „Schließlich war das Land an den ersten 16 Jahren der EU gar nicht beteiligt.“

Das Referendum ist, man sollte es nicht vergessen, eine Abstimmung von Europäern über die EU. Wer ein Europa der Europäer will, kann nicht ein Projekt verfolgen, bei dem Leute abspringen, oder auch nur fast abspringen, und ihnen hinterherrufen: Wir brauchen Euch nicht. Eine von David Camerons Forderungen, als Symbolpolitik belächelt, bestand darin, dass der Satz von der Schaffung „einer immer engeren Union der Völker Europas“ für Großbritannien nicht mehr gelten sollte.

Die Europäer hätten sich diese Forderung zu Eigen machen sollen, als Symbolpolitik: um auch den Deutschen und Niederländern und Ungarn zu zeigen, dass niemand einfach so weitermachen will. Wolfgang Schäuble ist längst so weit: „Wir könnten als Antwort auf einen Brexit nicht einfach mehr Integration fordern. Das wäre plump, viele würden zu Recht fragen, ob wir Politiker noch immer nicht verstanden haben“, sagt Schäuble im „Spiegel“ und plädiert für mehr Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten, „so wie es die Briten verlangen“.

Und so wird in dem britischen Referendum über die Vergangenheit abgestimmt. Damals, als die Briten sich aus dem Euro und aus Schengen heraushielten, wäre eine Scheidung sinnvoll geworden. Heute ist die EU eine andere: Sie ist desillusioniert und integrationsmüde – und damit näher an Großbritannien als je zuvor. Zu gehen, wenn man gewonnen hat, sagt der britische Historiker Niall Ferguson, ist eine falsche Strategie. Aber es geht am Donnerstag nicht um Strategie, sondern um eine Entlastung der Vergangenheit. Dass die Briten jedoch überhaupt die Frage stellen nach der Zukunft, ihrer eigenen und der der EU, zeigt, dass sie den übrigen Europäern politisch wieder voraus sind. Denn dieser Frage wird sich schon bald auch der Rest von Europa stellen müssen – dann hoffentlich ohne Illusionen.

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