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Jeremy Corbyn, Labour-Chef und Oppositionsführer.

© AFP

Vor dem Brexit-Votum: Das Kalkül des Oppositionsführers Jeremy Corbyn

Labour-Chef Jeremy Corbyn verfolgt eine gefährliche Brexit-Strategie. Der EU-Gegner stellt sich dabei gegen seine junge Parteibasis.

Vergangene Woche fuhr Jeremy Corbyn ins nordenglische Wakefield. Die Spindoktoren des britischen Oppositionsführers hatten vorab eine programmatische Brexit-Rede angekündigt – sicher kein übereilter Schritt angesichts der Unklarheit, die in London über die Haltung der Labour-Party zum geplanten EU-Austritt herrscht. Schließlich entscheidet das Unterhaus an diesem Dienstag über das Verhandlungspaket, das Premierministerin Theresa May aus Brüssel mitgebracht hat. Wie große Teile der konservativen Regierungsfraktion will auch Labour den Austrittsvertrag und die politische Zukunftserklärung ablehnen, soviel steht fest. Aber was dann?

Seit der Wahl des linken Veterans Corbyn zum Parteichef hat die alte Arbeiterpartei einen ungeahnten Aufschwung erlebt und die Mitgliederzahl verdreifacht. Rund 540000 Briten gehören dazu, Labour darf sich mit dem Titel der größten Partei Westeuropas schmücken. Wie die überwiegend jungen Corbyn-Enthusiasten denken, hat jüngst ein Forschungsprojekt von Professor Tim Bale an der Londoner Queen Mary-Universität ermittelt: Fast drei Viertel (72 Prozent) möchten mittels eines zweiten Referendums das Ergebnis der Volksabstimmung vom Juni 2016 (52:48 Prozent) zu Fall bringen. Zunehmend drängend fordert die Basis eine entsprechende Kursänderung der Führung. Denn Corbyn, den die jungen Mitglieder verehren, ist ein alter EU-Gegner.

Auf dem Parteitag in Liverpool im September gelang mit Hilfe von Corbyns Brexit-Sprecher Keir Starmer in letzter Minute noch ein Kompromiss zwischen den Gegensätzen. Wenn der „Tory-Brexit“ (Labour-Jargon) keine Mehrheit im Parlament finde, müsse es zu Neuwahlen kommen, hieß es. Labour werde dann eine bessere Lösung für den Brexit finden. Nur falls das Unterhaus sich der Selbstauflösung verweigere, werde man über ein zweites Referendum nachdenken.

Zwar gelten beiderseits des Ärmelkanals Neuverhandlungen mit Brüssel als extrem unwahrscheinlich, was selbst Starmers Umfeld einräumt. In Wahrheit haben die merkwürdig gespreizten Formulierungen nur eine Ursache: Jeremy Corbyn. Eine ehrliche Rede des Oppositionsführers in Brexit-Hochburgen wie Wakefield müsste nämlich mit dem Satz beginnen: „Ich bin einer von Euch.“ Corbyn, 69 Jahre alt, hat sich sein Weltbild in den 1960er und 1970er Jahren zurechtgelegt. Damals wie heute gilt Brüssel bei der harten Linken als „Europa der Konzernbosse“.

Der lebenslange Aktivist

Der lebenslange Aktivist ohne Uni-Abschluss und Berufsausbildung nennt sich stolz einen Internationalisten. Sein politisches Interesse speist sich aus der Empörung über wichtige Konstanten der US-Außenpolitik: das Bündnis mit Israel; die Jahrzehnte lange Feindseligkeit gegenüber Kuba; die Unterstützung für die Diktatoren Lateinamerikas während des Kalten Krieges. Corbyn spricht hervorragend Spanisch, seine zweite Frau kommt aus Chile, seine dritte ist Mexikanerin. Die gemeinsame Katze hört auf den Namen El Gato – spanisch für Katze. Über die Regierungen Kubas und Venezuelas hatte er jahrelang nur positive Worte übrig.

Europa spielte in Corbyns Leben Jahrzehnte lang keine besondere Rolle, jedenfalls nicht seit mehreren Campingtrips in jungen Jahren mit seinem Motorrad tschechischer Bauart. Der Skepsis, ja Feindseligkeit gegenüber dem politischen Projekt blieb der Parteilinke treu. Als der damalige Labour-Chef und Premierminister Harold Wilson 1975 eine Volksabstimmung über die erst zwei Jahre zuvor begonnene Mitgliedschaft in der damaligen EWG ausrief, gehörte Corbyn zur Minderheit von 33 Prozent, die trotzig mit Nein stimmte.

Und so blieb es auch nach seinem Einzug ins Unterhaus. Jeden Integrationsschritt hin zur heutigen EU – die Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza, Lissabon – hat der asketische Vegetarier mit dem eisgrauen Vollbart abgelehnt. Gedrängt von der EU-freundlichen Parteibasis und Unterhausfraktion sprach er sich 2016 zwar für den Verbleib aus, engagierte sich im Referendumskampf aber selten und lustlos. Seine Meinungsäußerungen seither klingen stets uninspiriert.

Wie die Rede in der Brexit-Hochburg Wakefield, die gleichzeitig auch eine Labour-Hochburg ist. 15 Minuten lang wiederholt Corbyn die bekannten Formeln, weicht anschließend allen bohrenden Journalistenfragen aus. Die Strategie ist klar: Die Wählerschaft soll den Brexit-Schlamassel ausschließlich mit den regierenden Torys assoziieren. „Wir müssen die nächste Wahl gewinnen, und dafür müssen wir uns so lang wie möglich heraushalten“, lautet einem Insider zufolge die Strategie.

Ob die am Ende wirklich aufgeht, ist fraglich. Corbyn und sein engster Kreis fahren mit ihrer Unentschiedenheit einen gefährlichen Kurs. Denn die Umfragen sind nicht ermutigend: Allen innerparteilichen Querelen der konservativen Regierungspartei zum Trotz würden der jüngsten YouGov-Umfrage zufolge derzeit 40 Prozent die Konservativen und nur 34 Prozent Labour wählen.

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