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Angela Merkel und der türkische Ministerpräsident Erdogan am 31. Oktober 2012 im Bundeskanzleramt.

© dpa

Vor dem Türkei-Besuch: Selbstbewusste Forderungen an Merkel

Im Vorfeld des Besuchs der Bundeskanzlerin ließ die türkische Regierung schon mal einen Forderungskatalog durchsickern. Die EU wird die Türkei bald mehr brauchen als die Türkei die EU, lautet das neue Mantra.

Angela Merkel wird nicht auf Knien nach Ankara robben, wie EU-Kommissar Günther Oettinger das für die kommenden Jahre vorausgesagt hat. Dennoch wird die Bundeskanzlerin in der Türkei am Sonntag und Montag erleben, dass sich seit ihrer letzten Visite vor drei Jahren einiges geändert hat in Sachen EU-Politik. Damals ging es den Türken vor allem darum, die Kanzlerin mit Blick auf den türkischen Beitrittswunsch milde zu stimmen – inzwischen ist es den Türken fast egal, ob Merkel milde gestimmt ist oder nicht. Denn im Gefühl der gewachsenen eigenen Stärke sind türkische Politiker durchaus Oettingers Ansicht: Die EU wird die Türkei bald mehr brauchen als die Türkei die EU, lautet das neue Mantra.

Ganz im Sinne des neuen Selbstbewusstseins ließ die türkische Regierung am Freitag bereits einen für Merkel gedachten Forderungskatalog an die Presse durchsickern. Demnach will Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Kanzlerin auffordern, die deutschen Sprachprüfungen für Türken wieder abzuschaffen. Auch die Regelung, wonach sich Doppelstaatler im 23. Lebensjahr für einen Pass entscheiden müssen, will Erdogan gestrichen sehen

Eine weitere Beschwerde betrifft die Zuweisung von Kindern aus türkischen Problemfamilien an deutsche Pflegeeltern durch die Jugendämter in der Bundesrepublik. Türkische Kritik gab es zuletzt auch mit Blick auf den Linksextremisten Ecevit Sanli, der aus Deutschland in die Türkei reiste und sich am 1. Februar in der US-Botschaft von Ankara in die Luft sprengte. Auf deutscher Seite sorgte die Flucht des mutmaßlichen Alexanderplatz-Schlägers Onur U. in die Türkei für Irritationen.

Bilaterale Meinungsverschiedenheiten gibt es auch beim Thema der türkischen EU-Bewerbung, doch sind die Vorzeichen ganz anders als beim letzten Merkel-Besuch im März 2010. Oettingers Voraussage, dass die krisengeschüttelte EU eines Tages der Regionalmacht Türkei nachlaufen werde, bringt aus türkischer Sicht das veränderte Kräftverhältnis zwischen Ankara und Brüssel auf den Punkt.

Ob die Europäer auf dem Bauch gekrochen kommen oder auf den Knien rutschend in Ankara vorstellig würden, das wisse er auch nicht, sagte EU-Minister Egemen Bagis. Sicher sei nur, dass die EU von ihrer ablehnenden Haltung der Türkei gegenüber abrücken werde.

Aus Ankaraner Sicht ist eine solche Positionsveränderung zwingend. Deutschland ist für die Türken zwar immer noch der wichtigste Handelspartner – doch der Handelsaustausch mit den Deutschen stagniert, während die türkischen Exporte nach Nahost boomen. Die Türkei ist Mitglied der G-20 und produziert Autos, Fernseher, Kühlschränke und andere Haushaltsgeräte für Millionen europäischer und außereuropäischer Haushalte. Die Fluggesellschaft Turkish Airlines gehört zu den erfolgreichsten Europas.

Gleichzeitig wächst der politische Einfluss der Türkei, der sich inzwischen bis nach Afrika erstreckt. Auch für die USA steigt die Bedeutung der Türkei als Verbündeter am Rand des instabilen Nahen Ostens. Nur einige Tage nach Merkel wird US-Außenminister John Kerry zu seinem Antrittsbesuch in Ankara erwartet. Die Europäer sollten sich endlich entscheiden, ob sie sein Land aufnehmen oder nicht, sagte Erdogan kürzlich. Die Türkei lasse sich nicht länger hinhalten.

Nach ihrem Truppenbesuch bei den deutschen Patriot-Soldaten in Kahramanmaras und einem Abstecher nach Kappadokien will Merkel in Ankara herausfinden, wie ernst es Erdogan mit seiner kürzlichen Ankündigung ist, die Türkei an die von China und Russland dominierte Organisation der „Shanghai Five“ heranzuführen und der EU Adieu zu sagen. Erdogans Warnung sei wohl eher ein Versuchsballon gewesen, hieß es auf deutscher Seite. In Ankara wolle man nun erfahren, „ob der Gedanke weiter verfolgt wird“.

Erdogans Warnungen dienen vor allem dem Ziel, den Europäern die gewachsene Bedeutung seines Landes klarzumachen. Die Ankaraner Einschätzung, dass die Türkei immer wichtiger für die EU werde, finde auch in Brüssel immer mehr Anhänger, sagte der deutsch-türkische Politiker Ozan Ceyhun unserer Zeitung in Istanbul. „Die Europäer erkennen, dass sie der Türkei mehr anbieten müssen.“

Das wichtigste EU-Angebot an die Türkei überhaupt wäre eine zeitliche Perspektive für einen Beitritt. „Wir brauchen ein Datum“, sagte der Istanbuler Politologe und EU-Experte Cengiz Aktar unserer Zeitung. „Sonst wird die ganze Sache langsam sterben.“ Ohne einen zeitlichen Anreiz werde die Türkei bei den Beitrittsgesprächen keine Zugeständnisse mehr machen. Aktar hat auch schon eine Idee für ein geeignetes EU-Beitrittsdatum seines Landes: das Jahr 2023, das hundertjährige Gründungsjubiläum der türkischen Republik.

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