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Das war der Brexit-Abstimmungskampf: "In"-Befürworter auf der Westminster Bridge in London vor einem Bus der Ukip-Partei.

© AFP

Vor der Brexit-Abstimmung: Wer links ist, kann keinen EU-Austritt fordern

Die Debatte um den Brexit zeigt: Eine Rückkehr ins Nationale würde die Ungleichheit weiter vertiefen. Ein Gastkommentar.

Die Britinnen und Briten stellen sich am Donnerstag eine folgenschwere und höchst riskante Frage. Ein EU-Austritt Großbritanniens wäre ein einschneidendes Ereignis mit unbekannten Folgen. Es würde eine lange Phase der Unsicherheit und langwierige Austrittsverhandlungen nach sich ziehen.

Die sehr emotional geführte Debatte über das EU-Mitgliedschaftsreferendum in Großbritannien offenbart einen tiefen Graben in der britischen Gesellschaft. Und – wenn sich das Motiv für den schockierenden und traurigen Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox bestätigen sollte – kann sie sogar auf brutale Art und Weise zur Radikalisierung führen. Viele wünschen sich den Rückzug in den Nationalstaat. Dann – so ihre Hoffnung – würden sich alle leidigen Probleme einfach auflösen. Andere Britinnen und Briten halten dagegen: Der Austritt aus der Europäischen Union sei eben nicht die Lösung. Er würde viele Probleme des Landes verschärfen und weitere schaffen.

Die entbrannte Debatte um den Brexit geht über Großbritannien hinaus. Sie offenbart den desolaten Zustand, in dem sich die politische Debattenkultur zur Zeit befindet und ist symbolisch für den Zustand eines Kontinents, in dem immer größer werdende politische Bewegungen die Zeit zurückdrehen und die Realität verweigern wollen. Die Europäischen Institutionen in Brüssel oder die Flüchtlinge werden in dieser einfachen Logik zum Sündenbock gemacht.

Ein Brexit würde Rechtspopulisten auch anderswo Auftrieb geben

Das bevorstehende Referendum ist somit nur auf den ersten Blick ein britischer Sonderweg. In ganz Europa erzählen nationalistische und antieuropäische Parteien die Geschichte vom Wiedererlangen von Kontrolle und Souveränität. Deshalb ist Überheblichkeit ebenso wie übertriebene Zurückhaltung in der Debatte um den Brexit fehl am Platz. Bisher haben die Rechtspopulisten in Europa mit Drohszenarien Diskurse verschoben, Ängste geschürt und rassistische Ressentiments wieder salonfähig gemacht. Ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union würde diese Parteien substanziell aufwerten und ihnen Rückenwind geben.

Leider machen diese Mythen auch vor der politischen Linken nicht Halt. Auch einige derjenigen, die sich mehr soziale Gerechtigkeit wünschen, trommeln im Vereinigten Königreich für einen Austritt. Auch in Deutschland kritisieren Teile des linken Spektrums nicht nur die europäischen Institutionen und ihre Politik, was sinnvoll, notwendig und legitim ist, sondern machen Stimmung gegen die Europäische Einigung als Ganzes. Das ist brandgefährlich.

Richtig ist, auf der britischen Insel wie in Europa gibt es Verlierer der Globalisierung. 8,1 Millionen Britinnen und Briten leben am Existenzminimum. Immer noch kämpfen wir in der Europäischen Union mit einer tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise.

Die Rückkehr ins Nationale vertieft die Ungleichheit

Diese soziale Krise ist ein Nährboden, auf dem die antieuropäischen Kräfte gut gedeihen. 69 Prozent der britischen Bevölkerung misstrauen Politikerinnen und Politikern, drei Viertel der Britinnen und Briten finden, dass zu viele Migranten im Land sind. Das alles wirft die Brexit-Stimmungsmache, insbesondere von Nigel Farage und seiner Ukip-Partei, in einen Topf. Sie fordern ein Ende der “Einmischung” aus Brüssel und halten das Schild der nationalen Souveränität hoch. Sie schüren Ängste in der Bevölkerung, die dazu führen, dass Migrantinnen und Migranten sowie Menschen aus anderen EU-Mitgliedstaaten schuldig gemacht werden für die steigenden Mieten in London, die harte Sparpolitik der Tory-Regierung, Wohnungseinbrüche, organisierte Kriminalität.

Hier müsste jeder Linke sehen können, zu wessen Komplize er sich beim Kampf gegen Europa macht. Der Glaube, ein EU-Austritt würde zu mehr Mitbestimmung der Bevölkerung und Umverteilung von Reich nach Arm führen, wird sich als Illusion erweisen. Im Gegenteil: Die Rückkehr ins Nationale wird es noch leichter machen, schwache Gruppen und Minderheiten gegeneinander auszuspielen. Und er wird die ungleichen Kräfteverhältnisse zwischen multinationalen Unternehmen, flüchtigem Kapital und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern weiter vertiefen.

Die Linke muss entschieden proeuropäisch sein

Wir sollten dieses Referendum als einen Weckruf sehen. Ein Weckruf, vor allem auch für die politische Linke in Europa, entschieden proeuropäisch für ein anderes, ein soziales und solidarisches Europa zu kämpfen. Die EU muss für soziale Mindeststandards sorgen und den Steuersündern den Kampf ansagen.

Der EU wird oftmals vorgehalten, sie sei zu undemokratisch, zu behäbig, zu reformunfähig. Doch betrachtet man die letzten 60 Jahre europäischer Geschichte, sieht man, dass diese bestimmt waren von großen politischen Umbrüchen, weitreichenden Vertragsänderungen und wegweisenden Reformen.

Nur mit einem europäischen Gestaltungsanspruch und mit harten politischen Auseinandersetzungen auf europäischer Ebene hat das gemeinsame europäische Projekt eine Zukunft. Wer sich vor dieser Aufgabe wegduckt, wird verlieren. Es ist unsere Aufgabe, den Umbruch zu gestalten, statt dies rechten Populisten zu überlassen. Wir müssen für ein offenes und solidarisches Europa streiten und gegen die nationalen Egoismen und den Rechtsruck kämpfen.  

Anton Hofreiter ist Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag; Terry Reintke ist Abgeordnete des Europäischen Parlaments für die Grünen.

Anton Hofreiter, Terry Reintke

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